20.09.2018
Das erste Buch von Dmitrij Kapitelman »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters«

Zwei Atheisten in Israel

Dmitrij Kapitelman debütiert mit dem großartigen Buch »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters«.

Dmitrij Kapitelman verfügt über eine sprachliche Virtuosität, die ihn aus der Vielzahl von Autoren seiner Generation heraushebt. Geboren ist er 1986 in Kiew und erst als Achtjähriger nach Deutschland eingewandert; als sogenannter – schreckliches Wort – »Kontingentjude«. Auch die Erfahrungen, die sich hinter dieser Zu­ordnung verbergen, sind düster. Noch dazu für ein Kind. Dmitrij ist der Sohn des jüdisch-ukrainischen Mathematikers Leonid Kapitelman und seiner aus Moldawien stammenden Ehefrau Vera Romaschkan, deren Nachnamen er erhielt, um ihn vor antisemitischen Ressentiments zu schützen. Mit den Eltern spricht er bis heute Russisch. Er ist also kein, im Sinne des Wortes, Muttersprachler, verfügt aber über einen reichen Wortschatz und bewegt sich sicher auf mehreren Sprachebenen und in verschiedenen Milieus. Mit Leichtigkeit wechselt er vom Slang der Skinhead-Vorstadt in Leipzig, in der er aufwuchs, zu hochsprachlichen Wendungen des 19. Jahrhunderts, die verraten, dass er viele gute Bücher der deutschen Literatur gelesen hat. »Er konnte nicht umhin«, schreibt Kapitelman irgendwann im Text, ohne dass diese Formulierung als altmodisch auffällt. Wer wagt noch, in den Tagen der Smileys und neuen Analphabeten, zu solchen sprachlichen Mitteln zu greifen?

Kapitelman verfügt über viele überraschende Mittel. Er spielt mit den Worten, mit Syntax und Rhythmus, er lässt die Sätze klingen und schwingen. Stellenweise ist es beglückend, seinen Text zu lesen. So wie dieser Autor schreibt, ist die deutsche Sprache wirklich liebenswert. Das ist auch nicht die mühsam zusammengestoppelte, künstlich unterkühlte, synthetisch vielsagende Prosa des geförderten Literaturbetriebs, sondern etwas vollkommen Eigenes: Musik und Wärme, Offenheit, Widerspruch, Ironie, keine Scheu vor Emotionen, eben richtige Literatur.

Mit Leichtigkeit wechselt Dmitrij Kapitelman vom Slang der Skinhead-Vorstadt in Leipzig, in der er aufwuchs, zu hochsprachlichen Wendungen des 19. Jahrhunderts, die verraten, dass er viele gute Bücher der deutschen Literatur gelesen hat.

Die Geschichte, die Kapitelman erzählt, könnte kaum alltäglicher sein. Ein eben erwachsener Sohn reist mit seinem schon etwas trägen, beleibten Vater in ein anderes Land. Die Reise ist eine Idee des Sohnes, er bezahlt sie auch und ist überhaupt die treibende Kraft. Das Besondere besteht darin, dass Israel das Ziel der Reise und der Erzähler Jude ist. Genau genommen Sohn eines Juden, denn seine Mutter ist Nichtjüdin, weshalb der junge Mann nach orthodoxem Verständnis kein richtiger Jude ist und sich in inneren Monologen »Falschjude« nennt – ein Identitätsproblem deutet sich an. Die Reise nimmt schnell die Züge einer Pilgerfahrt an und dient dem Erzähler dazu, sich selbst und den Vater nach seiner Herkunft und seiner Biographie zu befragen. Alle möglichen Orte werden aufgesucht, die Gestade des Mittelmeers in Netanya, ein Friedhof in Jerusalem, ein Hotel in Ramallah, das Tote Meer an einem Tag mit Sandsturm, das Diaspora-Museum in Tel Aviv. Minutiös aufgezeichnete Reflexionen halten fest, was der Aufenthalt in Israel in ihm auslöst. Zunächst registriert er seinen Widerstand, ein Misstrauen gegen eine leichtfertige Identifikation mit einem Land, das er bisher gar nicht kannte. Dann bemerkt er seine allmähliche Öffnung für die Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen und Landschaften, schließlich sind es Anflüge von Begeisterung, von Heimatgefühlen gar, die er sich selbst eingestehen muss. Dass diese Protokolle innerer Befindlichkeiten kaum jemals langweilig werden, liegt nicht zuletzt an Kapitelmans Humor. Seine Beobachtungsgabe und sein feines Gespür für das Groteske machen das Buch so unterhaltsam; stets aber gibt es noch eine zweite, existientielle Ebene. Auf der Fahrt im Bus vom Zentrum Tel Avivs in die Vorstadt wird ihm klar, wie dünn seine Fassade aus Ironie und Abgeklärtheit ist: »All die Skepsis, die Selbstinspektionen und selbstauferlegten Beschränkungen, wozu eigentlich? Für wen? Ich muss lachen. Und aufpassen, dass mein Lachen nicht ins Weinen kippt. Denn die Linie 18 braucht noch eine Weile nach Bat Yam.«

Um sich der unerklärlichen Rührung zu erwehren, die ihn immer wieder befällt, wird ein Arsenal psychologischer Waffen aufgefahren: Seine nur »halbjüdische« Abstammung, das in europäischer Erziehung aufgeklärte Ich, alle nur denkbaren Argumente gegen die Politik der israelischen Regierung. Dennoch will die Abwehr nicht gelingen, irra­tionale Dinge kommen dazwischen. Obwohl Vater und Sohn nicht religiös beziehungsweise geradezu militant atheistisch sind, erlebt der Erzähler eine unerklärliche Empfindung beim Anblick der Klagemauer: »Meine Brust zieht sich zusammen.«

Der Text ist gespickt mit Momenten, in denen der Erzähler von sich selbst überrascht ist. Es ist das, was das Buch heraushebt aus der Flut von Bekundungen der Coolness und des Bescheidwissens: Kapitelman ist ein Autor, der staunen kann und sich dazu bekennt; der sein Staunen geradezu zelebriert. Es ist seine Perspektive auf die Welt. Sein Lebenslauf scheint so absonderlich, seine Identität so ungewiss, sein Gefühl der Unzugehörigkeit so perfekt, dass, wie er schreibt, »nichts an seinem Leben selbstverständlich« ist. Auch nichts an der Welt, die ihn umgibt. Die Welt des Dmitrij Kapitelman ist voller Abgründe und wunderbarer Überraschungen.

Der Debütroman trägt die Insignien großer Literatur. Kapitelman vermag in wenigen Sätzen Figuren aufzustellen, die man nicht vergisst, und Atmosphäre zu schaffen, die sofort gefangen nimmt. Er arbeitet mit originellen Stilmitteln, mit einer raffinierten Verschränkung von innerem Monolog und äußerem, aus Passagen rascher, oft verblüffender Handlung und retrospektiver Reflexion – was er mit einiger Eleganz, manchmal übergangslos, verbindet. Der Text erzeugt anhaltende Spannung. Beim Lesen entstehen mentale Räume, in denen man sich – sei es wohlig, sei es mit Frösteln – akklimatisiert.

Nicht anders als die großen Meister der Literatur, Anton Tschechow etwa oder Katherine Mansfield, zeichnet er seine Figuren mit Liebe, selbst die zweifelhaften, die negativen. Kapitelman macht ihren Charakter plausibel, auch ihre dummen und absurden Handlungen.

Es gibt auch ein paar Missverständnisse. So werden die beiden Reisenden von einem israelischen Freund gebeten, beim nächsten Besuch einen Rollator aus Deutschland mitzubringen, da er in Israel unerschwinglich teuer sei. Tatsächlich gibt es in ­Israel solche Gehhilfen auf Rezept bei Wohltätigkeitsorganisationen. Hinreißen lässt sich Autor zu manch überflüssigem politischen Bekenntnis, manchmal Halbseiten lange ­Tiraden, die bei einem sonst originellen Beobachter seltsam schal und mainstreamig wirken, als wolle er Zustimmung erheischen. Wenn er darauf verzichten lernt und weiterhin schreibt, was er mit seinem scharfen Blick und großer Empathie erkennt, darf man sich auf groß­artige Bücher freuen.

 

Dmitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Hanser, München 2018, 288 Seiten, 20 Euro