»The Kinks Are the Village Green Preservation Society« war der zu Unrecht größte musikalische Flop von 1968

Die Glaubenssätze von Fortis Green

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Auch Themen und Bilder schöpfte Ray Davies, der Hauptsongschreiber der Kinks, nicht aus dem zeitgenössischen Kanon von Drogen und Revolte oder den Blues-Sujets aus Chicago und dem Mississippi-Delta. Seine konzisen Alltagsbeobachtungen orientierten sich eher an den ironischen Bühnenstücken Noël Cowards oder an den Stücken und Romanen William Somerset Maughams, die die eigentümliche Klassenspannung Englands perfekt beschrieben: jene Spannung, die zwischen dem die gesellschaftlichen Ansprüche ästhetisch prägenden Lebensentwurf der Aristokratie und der durch eine Vielzahl feiner und weniger feiner Distinktionen davon getrennten Lebensrealität von Mittel- und Arbeiterklasse bestand.

Es waren Themen und Vorbilder aus dem britischen Alltag und der jüngeren Vergangenheit, die die Songs von Ray Davies ausmachten: »Ich schrieb über die, wie ich sie nannte, große Generation, die Generation meiner Eltern, die Weltkriege und die Depression durchgemacht hatten. Ich schrieb über das, wofür sie standen und woran sie glaubten. Als die Kinks erfolgreich wurden, waren wir in diesem Swinging London in Technicolor, aber unser Zuhause war immer noch eine Schwarzweiß-Dokumentation, ich sah keine große Veränderung. Und meine Familie erwartete auch keine, aber sie gaben ihre Bestrebungen dennoch nicht auf« – ebenso wenig wie die Kinks selber.

Ihr Nonkonformismus, ihre Abneigung dagegen, wie sich London und mit ihm die Welt zu verändern begann, wurde zu einer »eigenen, persönlichen Bewegung, mit der die Kinks für die Glaubenssätze von Fortis Green« – das Vorstadtviertel, in dem Ray Davies uncool monogam mit Frau, Kind und Piano lebte – »kämpften: die stärkende Tasse Tee nach einem harten Tag statt des existenzauslöschenden LSD«, wie der Biograph der Kinks, Nick Hasted, resümierte. Fortis Green steht für die Lebensweise, die die Kinks auf beschwörende Weise, nämlich mit einem absolut unzeitgemäßen Album, vor dem, was sich in Soho oder in der City abzeichnete, bewahren wollten. Ray Davies sagte viele Jahre später: »Vielleicht ist es ein künstlerischer Todeswunsch, so was zu veröffentlichen. Aber mit ›Village Green‹ wollte ich etwas schreiben, das, wenn wir in der Versenkung verschwunden wären, wenigstens hätte dokumentieren sollen, wo wir herkamen.«

Wo sie herkamen, das war, nüchtern betrachtet, in etwa das Gebiet der Londoner Postleitzahlen N2 und N10, nahe der U-Bahnstation East Finchley, mit den ehemals bischöflichen Jagdrevieren Cherry Tree Wood und Highgate Wood und den Vorstädten Highgate und Muswell Hill, die die Fortis Green Road verbindet; nach dem Krieg eine Gegend, in der man billig ein hübsches, aber unmodernes und beengtes Häuschen abstottern konnte. Es war die Welt der Kindheit der Davies-Brüder, beide, wie es sich in dieser Gegend nun mal gehörte, Arsenal-Fans, die schon mal Konzerte absagten, um Heimspiele ihres Clubs zu besuchen; selbst das Studio, in dem sie jahrzehntelang aufnahmen, lag nur wenige Minuten entfernt.

In diese Welt führt »Village Green«. Cembalo-Geklimper leitet das Album ein, das einen sehr englischen Tagtraum variiert, der sich an betagte Gemäuer und Parks, Dracula-Filme und Sherlock-Holmes-Bücher, alte Vaudeville-Songs, Zeitungsstrips aus Kindertagen, Photoalben und kindliche Kricketspiele heftet. Die Kinks beweisen ein geradezu provokantes Gespür dafür, was der fortschrittlich Gesinnte jener Tage peinlich fand: Sie treten als Gesellschaft zur Verdammung von Bürokomplexen und als Vereinigung von Fassbierliebhabern auf, erflehen Gottes Schutz für die tapferen Träger des Georgskreuzes, die Vielfalt der Erdbeermarmeladen und die erste landesweit erfolgreiche Drag-Show, den Music-Hall-Act »Old Mother Riley« von 1934 (eine von einem Mann gespielte Bühnenfigur, die es zu Verfilmungen und in populäre Comicstrips brachte) – ein Motiv, das den für einen oberflächlichen Blick ­vielleicht reaktionär anmutenden Charakter des Albums schon nach nicht einmal einer Minute Spielzeit konterkariert. Einem fast schon Benjamin’schen Konzept folgend, wonach die Hoffnung sich eher aus der Erinnerung an die Vergangenheit, gerade auch die eigene, die Kindheit, speist als aus einer Zukunft, die rücksichtslos über die Lebenden hinwegzutrampeln sich anschickt, hält das Album diese Ambiguität des Titelstücks bis zum Ende durch. Im Verlauf trifft Ray beispielsweise einen Jugendfreund, den er danach fragt, ob er sich noch erinnern könne, wie sie als Jungen Kricket im Regen gespielt hätten und gegen die Welt kämpfen wollten, um frei zu sein: »Do You ­Remember Walter?« Doch Walter bedeutet es nicht mehr, was es Ray ­bedeutet, seinen Traum hat er mit der Pubertät begraben. »Picture Book« wiederum fängt das wohlig-schmerzliche Gefühl ein, das Fotos vergangener Tage hervorrufen, wenn die Gegenwart nur allzu schlecht ­gegen die Erinnerung abschneidet. »Animal Farm« träumt vom Cottage auf dem Land, in dem Ray und seine Freundin sich gegen eine Welt verschanzen, die nur dazu da zu sein scheint, Hoffnungen zu enttäuschen; ein Thema, das »Big Sky« berührend wieder aufnimmt und einen gleichgültigen Kosmos thematisiert (ein Seitenhieb auf die damals hoch im Kurs stehenden technischen Weltraumutopien). »Last of the Steam-Powered Trains«, das als einziges Stück der Platte entfernt nach damals aktueller Rockmusik klingt, weil es das Grundriff von Howlin’ Wolfs »Smokestack Lightning« aufnimmt, thematisiert mit seiner sprechenden Dampflok den bevorstehenden Bedeutungsverlust der englischen Arbeiterklasse: »Ich lebe in einem ­Museum, nur deshalb geht es mir gut.«

Derlei wollte 1968 niemand so recht hören – doch begannen sich die Vorbehalte der Kinks gegen die aufscheinende neue Welt entgrenzter Selbstverwirklichung alsbald zu bewahrheiten: Die Manson-Morde erschütterten den Pop-Optimismus, das Altamont-Festival endete in einem blutigen Desaster, als 1969 dort während des Konzerts der Rolling Stones der nicht einmal 20jährige Meredith Hunter erstochen wurde. Woodstock machte Esoterik endgültig wieder salonfähig und die Protestbewegung begann, ihre hässlichen Seiten zu zeigen: Die ersehnte und fällige Auflösung einengender Konventionen arbeitete immer deutlicher einer neuen Unmittelbarkeit des Rohen zu, der Gleichgültigkeit gegen das Zurückbleibende, nicht mehr Mitkommende und damit auch der Gleichgültigkeit gegen die Zurückbleibenden und nicht mehr Mitkommenden, jenen, die es sich schon bald nicht mehr leisten können sollten, im einstigen Vorstadtkönigreich der Davies-Brüder zu wohnen.

»Es war ein prophetisches Album«, sagte Gitarrist Dave Davies Jahrzehnte später über »Village Green« durchaus mit einem gewissen Recht. Der britische Wohlfahrtsstaat bröckelte wenige Jahre nach der Veröffentlichung, das Universum der Kinks wurde gut zehn Jahre nach Veröffentlichung im Thatcher’schen Gewaltstreich schlicht und ergreifend abgeschafft. Doch trotz all seiner lyrischen Stärke und imaginativen Kraft bleibt »Village Green« eben auch den Beschränkungen seiner Entstehungszeit verhaftet: Die Bedrohung, gegen die das Album sich in einem Akt von geradezu autodestruktiver Souveränität abzukapseln versucht hatte, nahm tatsächlich eine ganz andere Form an, als es die Kinks befürchtet hatten (und auch schon George Orwell, dessen satirisch-dystopischer Roman »Coming Up for Air« von 1939 – deutsch: »Auftauchen, um Luft zu holen« – Ray Davies eindeutig beeinflusst hatte): Nicht Stahl und Glas, Großraumparkplätze und die Ödnis der Einkaufszentren kamen über das »Village Green«, sondern eine viel heimtückischere Form der Zerstörung, die die Fassaden von Highgate und Muswell Hill intakt ließ, um sie zugleich in jeder nur denkbaren Hinsicht zu entkernen. Die Häuschen, in die sich working class-Familien wie die Davies’ einst gepfercht hatten, sind heutzutage aufgepeppte first class-Immobilien für die Familiengründungen des gesundheitsbewussten Jetsets aus der City geworden und der im Titelstück besungene »little shop« musste nicht einem Discounter weichen, sondern mutierte wahlweise zum Biomarkt oder zum Edelshop für pädagogisch wertvolles Holzspielzeug.

Selbst das nur etwa zwei Meilen südlich der »Village Green«-Gegend gelegene, 1913 errichtete Stadion des FC Arsenal in Highbury, dessen Heimspiele den Kinks häufig wichtiger waren, als vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen, ereilte dieses Schicksal: Es wurde 2006 nicht etwa komplett abgerissen, als der Club in eine moderne Hightech-Arena umzog, sondern relativ unauffällig und der alten Form architektonisch angepasst in eine 700 Luxusappartements umfassende Wohnanlage umgewandelt, in die die ehemalige Osttribüne integriert blieb – das Spielfeld dient heute den betuchten Bewohner als Privatpark. Auch die Musikindustrie möchte offenbar an dieser Art von Aufwertung teilhaben: »The Kinks Are the Village Green Preservation Society« ist rechtzeitig zum 50jährigen Jubiläum des größten Flops des Jahres 1968 in einer »Deluxe-Box« zum Preis von schlappen 139 Euro wiederveröffentlicht worden.