Thierry Chervel, Autor und Publizist, im Gespräch über den Mordaufruf Ayatollah Khomeinis gegen den Schriftsteller Salman Rushdie vor 30 Jahren

»Die Fatwa besteht bis heute«

Thierry Chervel war Redakteur bei der »Taz« für Film, Musik, Tagesthemen, Kulturkorrespondent für die Süddeutsche Zeitung in Paris und Redakteur auf der Berliner Seite der »Süddeutschen Zeitung«. Er ist Mitbegründer des Onlineportals Perlentauchers. Mit der »Jungle World« sprach er über die zeithistorische Bedeutung der Fatwa Ayatollah Khomeinis gegen Salman Rushdie, in der zur Tötung des Schriftstellers aufgerufen wurde.
Interview Von

Im Februar 1989 rief der iranische Staatschef Ruhollah Khomeini die Muslime aller Welt zum Mord an Salman Rushdie auf. Als Kulturredakteur der »Taz« haben Sie die Debatte über die Todes-Fatwa live mitverfolgt. Wie reagierte die westliche Öffentlichkeit auf den Mordaufruf?
Khomeinis Fatwa traf die westliche Öffentlichkeit sehr unerwartet. Schon die Unruhen in Indien, Pakistan und Großbritannien kurz vor dem Mordaufruf erschienen vielen schlicht bizarr und kurios. Denn trotz der Revolution im Iran zehn Jahre zuvor hatte man für das Phänomen des Islamismus im Grunde noch gar keine vernünftigen Deutungsmuster. In Deutschland kam dazu, dass Rushdies inkriminierter Roman noch nicht erschienen war. Letztlich entschied sich der Verlag Kiepenheuer und Witsch sogar dazu, die »Satanischen Verse« doch nicht zu veröffentlichen.

Wie konnte das Buch dennoch auf Deutsch erscheinen?
Nach dem Druck der Taz, Hans Magnus Enzensbergers und Günter Grass’ sowie durch die Initiative des Rowohlt-Verlegers Michael Naumann hatte sich ein Konsortium gegründet, das den Roman unter dem Signum »Artikel 19« herausbrachte. Allerdings erschien er erst Wochen später als geplant. Die Fatwa besteht übrigens bis heute, zuletzt wurde 2016 das Kopfgeld auf insgesamt knapp 4 Millionen Dollar erhöht.

»Große Teile der europäischen Linken schwenkten damals um von einer sozialen hin zu einer kulturalistischen Deutung von Gesellschaft. Das gilt bis heute und gewinnt in meiner Wahrnehmung auch immer mehr an Bedeutung. Symbolisch steht die Todes-Fatwa deshalb auch für den cultural turn in der politischen Debatte.«

Wie blicken Sie heute auf die damalige Debatte in Deutschland?
Die Auseinandersetzungen um die deutsche Übersetzung waren – ebenso wie der gescheiterte Versuch der Taz, alle überregionalen deutschen Zeitungen zu einem Abdruck des ersten Kapitels zu bewegen – von einem falschen Verständnis von Toleranz und von Angst geprägt. Nach stundenlanger Telefoniererei hatte Taz-Chefredakteur Arno Widmann der Zeit, der Faz, der Süddeutschen, der Frankfurter Rundschau, dem Stern vorgeschlagen, gemeinsam und gleichzeitig Auszüge aus den »Satanischen Versen« abzudrucken. Dabei ging es nicht nur um die Geste, sondern auch darum, dass sich das Publikum überhaupt erstmal ein Bild machen kann, was es mit dem Roman auf sich hat, um sich über den Streitgegenstand zu informieren. Die Kollegen aus den anderen Zeitungen waren begeistert – doch am Ende druckte die Taz die Auszüge, einen Tag und eine Woche nach der Fatwa, ganz allein.

Wissen Sie, wie Salman Rushdie diese Reaktionen wahrgenommen hat?
Sein Hauptanliegen in jenen Tagen war, dass die Verlage den Roman überhaupt veröffentlichen. Über seinen deutschen Verleger steht in Rushdies Erinnerungen nur, dass sein deutscher Herausgeber, das renommierte Verlagshaus Kiepenheuer und Witsch, »ohne viel Federlesens« seinen Vertrag kündigte und versuchte, ihm die für Sicherheitsmaßnahmen entstandenen Kosten in Rechnung zu stellen.

Rushdie hat jede Solidaritätsaktion in diesen Tagen dankbar registriert, aber auch zahlreiche Desolidarisierungen. Das beschreibt er ebenfalls in seinen Erinnerungen: »Die vereinigte Front der literarischen Welt begann zu bröckeln, und es tat ihm weh, mitanzusehen, wie seine eigene Welt unter dem Druck der Ereignisse zerbrach.«

Erst habe sich die Westberliner Akademie der Künste aus Sicherheitsgründen geweigert, eine Solidaritätsveranstaltung für ihn auf ihrem Gelände zuzulassen. Daraufhin hätten Günter Grass und der Philosoph Günther Anders unter Protest die Akademie verlassen. Die Schwedische Akademie in Stockholm, die alljährlich den Nobelpreis vergiebt, verzichtete auf eine formelle Erklärung gegen die Fatwa. Walter Jens, damals Akademie-Präsident, hatte damals mit Sicherheitsbedenken argumentiert. Die Stockholmer Akademie hat sich später mit Rushdie versöhnt.

Wie erklären Sie sich diese Reaktionen?
Letztlich haben die Medien agiert wie jemand, der sich in der U-Bahn dazu entscheidet, wegzusehen und nicht einzugreifen. Die Bedrohung war ja real, Rushdies Verleger und Übersetzer waren angegriffen und ermordet worden. Der zentrale starke Faktor für die Reaktion der Zeitungen und des Verlags war schlicht Angst. Inzwischen hat sie sich tief in die Diskurse über Kultur, Religion und Identitäten eingegraben. Der rationalisierte Name für diese Angst ist Respekt. Seit der Fatwa ist um Fragen der Identität vielerorts ein irrationaler Bannkreis gezogen.

Inwiefern verweigern die »Satanischen Verse« diesen Respekt?
Der Roman beinhaltet nicht nur klare Kritik am Islam und am Islamismus, sondern ist auch offen blasphemisch. In Form der postmodernen Ironisierung erzählt das Buch den Koran als Erzählung. Damit entzaubert er den Koran als eine Version unter vielen – und demontiert damit die aus dieser Erzählung abgeleiteten Macht- und Herrschaftsansprüche. Gegen den schwarzen Zauber der Religion setzt Rushdie weiße Magie der Literatur. Für Khomeini richteten sich die »Satanischen Verse« deshalb »gegen den Islam, den Propheten und den Koran«. Heute würde wohl niemand mehr wagen, so ein Buch zu veröffentlichen.

Welche welthistorische Bedeutung hatte die Rushdie-Affäre?
Seit der Rushdie-Affäre gibt es einen Riss, der die Linke spaltet. Zwar gehört Religionskritik zu ihrem vornehmsten, heute aber mehr oder weniger vergessenem Erbe. Gleichzeitig begreifen viele Linke auf der Suche nach einem revolutionären Subjekt die Muslime ausschließlich als bedrohte Minderheit beziehungsweise als passives Opfer des Kolonialismus und Imperialismus. Daraus erklärt sich die bis heute bei vielen Linken festzustellende heimliche Sympathie für den Islamismus. Für linke Intellektuelle wie Salman Rushdie war das nach der Fatwa der nächste Schock: Er selbst wurde für viele britische Linke zum Verräter, der sich gar von Margaret Thatcher beschützen lassen musste.

Während der Rushdie-Affäre stellte sich heraus, dass es nicht viele Menschen gab, die universalistische Positionen nicht nur gegenüber der christliche Religion oder kommunistischen Unterdrückungsapparaten, sondern auch gegenüber der islamischen Religion hoch hielten. Dabei hat Rushdie doch die gleichen Ansprüche wie ein verfolgter Christ. Ein halbes Jahr zuvor hatte man ja kein Probleme damit, Martin Scorseses’ Jesus-Film gegen christliche Fundamentalisten zu verteidigen. Bei Rushdie gab es diese Einigkeit nicht.

Mit welcher Konsequenz?
Große Teile der europäischen Linken schwenkten damals um von einer sozialen hin zu einer kulturalistischen Deutung von Gesellschaft. Das gilt bis heute und gewinnt in meiner Wahrnehmung auch immer mehr an Bedeutung. Symbolisch steht die Todes-Fatwa deshalb auch für den cultural turn in der politischen Debatte.

Insofern war das Jahr 1989 eine Zeitenwende im doppelten Sinne: mit dem Mauerfall und Khomeinis Fatwa als zentralen, auch sehr symbolischen Ereignissen. Heute müsste die Öffentlichkeit universalistische Religionskritik neu lernen. Denn etwa bei der Debatte um die Mohammed-Karikaturen 2005 zeigte sich das gleiche Muster wie bei der Rushdie-Affäre: Im Namen des Respekts hat sich – mit Ausnahme der Welt – kein bedeutendes Medium getraut, die Karikaturen zu zeigen. Auch hier konnte man sich in den klassischen Medien kaum über den Streitgegenstand informieren, denn auch das deutsche Fernsehen zeigte die Karikaturen nur verpixelt. Das Internet ist dadurch zu einem Ausweichraum geworden.