Tödliche Arbeitsbedingungen in der Türkei

Sterben am Arbeitsplatz

Fast 2 000 Menschen kamen im Jahr 2018 in der Türkei an ihrem Arbeits­platz ums Leben. Besonders der für das Regime von Präsident Erdoğan wichtige Bausektor ist für Arbeiterinnen und Arbeiter gefährlich. Doch auch das Ende des Baubooms verheißt vorerst nichts Gutes.
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Die Räume von Bir Umut (Hoffnung), einem Nachbarschaftsverein im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, brummen vor Aktivität. Es ist der erste Sonntag im Dezember, ein paar Dutzend Menschen verschiedenen Alters begrüßen sich, plaudern und bereiten sich vor, das zu tun, wofür sie, wie an jedem ersten Sonntag des Monats, hierher gekommen sind. Auch wenn die Stimmung gerade heiter ist, der Anlass, aus dem sie sich versammeln, ist ein bedrückender. Nach kurzer Zeit treten sie vor die Tür auf die kleine Seitenstraße. In den Händen halten viele von ihnen Pappschilder mit dem Porträt eines Ehemanns, einer Schwester oder eines Sohnes, deren Namen sowie den Ort und Tag des Todes. Sie halten ihre »Mahnwache für Gewissen und Gerechtigkeit« ab; seit zehn Jahren schon, jeden Monat, gibt es diese Versammlungen der »Arbeiterfamilien für Gerechtigkeit«. Was die Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verbindet, ist, dass sie ein Familienmitglied verloren haben – gestorben wegen der oftmals tödlich gefährlichen Arbeitsbedingungen in der Türkei.

»In der Türkei zur Arbeit zu gehen, ist, wie in einen Krieg zu ziehen.«
Aslı Odman, Dozentin

Angefangen hatte alles im Jahr 2008. Bei einer Explosion in einer illegalen Feuerwerksfabrik in einem Industriegebäude im Istanbuler Stadteil Davutpaşa wurden 21 Arbeiterinnen und Arbeiter getötet und über 100 ­verletzt. Um auf den Fall aufmerksam zu machen, fingen Angehörige und ­Unterstützer an, regelmäßig Mahn­wachen abzuhalten. Viele von ihnen sind heute noch dabei, zudem haben sich über die Jahre andere Familien ­angeschlossen, die von ähnlichen Tragödien getroffen wurden. Es sind Menschen wie die Frau, deren Schwester bei Dreharbeiten von einem Last­wagen tödlich verletzt wurde, oder der Mann, dessen damals 17jähriger Sohn beim Montieren einer Neonreklame durch einen Stromschlag getötet wurde. Eine der Forderungen der Angehörigen ist, dass die Chefs und Amtspersonen, die letztlich für den Tod der ­Beschäftigten verantwortlich waren, bestraft werden. Bislang ist es üblich, dass nur in der Hierarchie niedrigstehende Arbeitsschutzbeauftragte Geldstrafen zahlen müssen. Ihnen gehe es nicht um Rache, betonen die Familien. Stattdessen hoffen sie, dass ernste strafrechtliche Konsequenzen dazu bei­tragen könnten, türkische Arbeitsplätze langfristig sicherer zu machen. »Wir machen weiter, bis wir strukturelle Verbesserungen sehen und die Rate dieser Arbeitsplatzmorde abnimmt«, sagt ­Fadime Tayranoğlu, deren Mann bei der Explosion 2008 in Davutpaşa ums ­Leben kam.

 

Schlachtfeld Baustelle

Derzeit entwickeln sich die Dinge in der Türkei jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung. Laut İSİG Meclisi, einer unabhängigen Beobachtungsstelle, die tödliche Arbeitsplatzunfälle erfasst, ist deren Zahl seit 2013 um rund 50 Prozent ­gestiegen. Dem jüngsten Jahresbericht der Organisation zufolge kamen allein 2018 fast 2 000 Arbeiterinnen und ­Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz ums Leben. Aslı Odman, eine Dozentin an der Universität Mimar Sinan und Expertenmitglied von İSİG Meclisi, drückt es am Rande der Mahnwache, an der sie regelmäßig teilnimmt, so aus: »In der Türkei zur Arbeit zu gehen, ist, wie in einen Krieg zu ziehen.«

Das mag dramatisch klingen, doch tatsächlich sind viele Bereiche des ­türkischen Alltags gefährlich, besonders seit dem Putschversuch 2016 gegen den autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und den folgenden Repressalien gegen alle, die die Regierung zu ihren Feinden ­erklärt. Unter anderem ­mache sich das dadurch bemerkbar, so die Familienangehörigen der Verstorbenen, dass sie für ihr Streben nach Gerechtigkeit immer häufiger als Spalter, Verräter und selbst Terroristen diskreditiert würden. Die Behörden begegnen den Mahnwachen mit Ver­boten: Lange fanden die Kundgebungen auf einem kleinen Platz entlang der ­belebten Istanbuler İstiklal-Straße statt, doch im September wurde dies ver­boten. Um sicherzustellen, dass die Familien an jenem Sonntag im Dezember nicht an ihren üblichen Ort zurückkehren, ist der Platz an dem Tag abgesperrt und wird von gepanzerten Fahrzeugen und mit Maschinengewehren bewaffneten Polizisten bewacht. Seit September finden die Mahnwachen in der Gasse vor dem Büro von Bir Umut statt, überwacht von Zivilpolizisten, die die ganze Veranstaltung filmen.

Eines der zentralen Schlachtfelder in der Türkei – um bei Odmans Bild zu bleiben – ist zweifellos die Baubranche, und das nicht nur wegen der Todes­opfer. Unter der Herrschaft von Erdoğans Partei AKP hat das Land einen atemberaubenden Bauboom erlebt. Nirgends ist dies sichtbarer als in Istanbul, wo Prestigeprojekte wie der neue Flug­hafen entstehen und auch ganze Stadtteile wie Beyoğlu, das kulturelle Herz der Metropole, sich grundlegend wandeln. Dass der Präsident selbst seinen Bauwahn als eine Art Feldzug verstanden wissen will, wird durch die all­gegenwärtige Propaganda mehr als deutlich. Ein riesiges Plakat in einer neu gebauten U-Bahnstation zeigt den im Herbst in Betrieb genommenen Großflughafen Istanbul, überschrieben mit dem Ausspruch Erdoğans: »Dies ist nicht nur ein Flughafen, sondern auch ein Monument des Sieges.«

 

Protest gegen Megaprojekte

Kaum etwas anderes in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten war so entscheidend und symbolisiert so sehr Erdoğans Aufstieg vom islamisch-konservativen Außenseiter in einer säkularen Republik zum unbestrittenen Herrscher einer neuen Türkei wie die Baubranche. Das gilt insbesondere für ­Megaprojekte wie den Flughafen. Es ist kein Zufall, dass die bisher größte ­Oppositionsbewegung gegen Erdoğans Regime, die Gezi-Revolte im Sommer 2013, bei der Millionen von Menschen die Straßen des Landes einnahmen, als Widerstand gegen ein fragwürdiges Bauprojekt begann. Der Auslöser der Proteste war das Vorhaben, den am Taksim-Platz gelegenen Gezi-Park im Zentrum Beyoğlus durch ein Einkaufszentrum im osmanischen Stil zu ersetzen. Bei dem folgenden Aufstand ging es aber bei weitem nicht nur um ein Einkaufszentrum, sondern vor allem um die gesamte autoritäre ökonomische Entwicklung des Regimes, die dieses Projekt verkörperte: die rücksichtslose Zerstörung von Grünflächen und ­Natur, die Verdrängung armer Bevölkerungsgruppen und die Beseitigung kultureller und politischer Denkmäler, um Platz zu schaffen für Erdoğans neue, neoimperiale Türkei. Wo eine ­andere Regierung vielleicht versucht hätte, den Unmut der Bevölkerung mit einem Kompromiss zu beschwichtigen, antwortete Erdoğan mit der ­Niederschlagung der Proteste. Und auch wenn der Gezi-Park gerettet werden konnte, wurden andere Großprojekte wie der Flughafen mit aller Kraft vor­angetrieben.

Mücella Yapıcı ist die Vorsitzende des Ausschusses für Umweltverträglichkeitsprüfung der türkischen Architektenkammer sowie Generalsekretärin von »Taksim-Solidarität«, einer der ersten Koordinationsgruppen der Gezi-Proteste. Ihr zufolge ist der »Baufeldzug« aus mehreren Gründen von zentraler Bedeutung für das Regime. Zum einen, erzählt sie in einer Kneipe im eher ­liberalen und kosmopolitischen Bezirk Kadıköy, hätten die Bauprojekte das Heranwachsen von regierungstreuen Kapitalisten ermöglicht: »Diese Bauvorhaben sind nicht nur ein Motor für die türkische Wirtschaft insgesamt, sondern haben auch viele Freunde des Regimes bereichert.« Das womöglich deutlichste Beispiel für die Vetternwirtschaft, die im Bausektor herrscht, sei der Abriss und Wiederaufbau des in Beyoğlu gelegenen Armenviertels Tarlabaşı. Die Firma, die den Auftrag erhielt, gehörte zur Çalık Holding Group, deren Geschäftsführer zu dem Zeitpunkt Berat Albayrak war, Erdoğans Schwiegersohn und Protegé. Mächtige Konzerne wie Çalık, die aus dem Bauboom hervorgegangen sind, seien zu einem zentralen Machtinstrument für Erdoğan geworden, so Yapıcı. Einer der Wirtschaftszweige, den diese Holdings inzwischen kontrollierten, sei die für ihre Linientreue bekannte türkische Medienbranche.

Neben dieser institutionellen Rolle für die Festigung des Regimes sei der Bauboom auch ideologisch wichtig. »Sinn vieler dieser Projekte ist es, die Wählerschaft Erdoğans zufriedenzustellen«, sagt Yapıcı. Es gehe darum, zu ­zeigen, dass man jetzt das Sagen habe, im Land wie in der ganzen Region. Während der neue Flughafen, einer der größten der Welt, ein Siegesmonument für Erdoğans Streben nach mehr geopolitischem Einfluss für die Türkei sei, so sei der Bau einer riesigen Moschee am Taksim-Platz, im Herzen der säkularen, multiethnischen und linken Türkei, ein Monument des Triumphs von Erdoğans konservativer Bewegung über ihre Gegner.

 

Vom Boom zur Krise

Der Beobachtungsstelle İSİG Meclisi zufolge ereignet sich etwa ein Viertel ­aller Todesfälle am Arbeitsplatz in der Baubranche. »Wegen der hohen Fluktuation der Beschäftigten am Bau und der Häufigkeit, mit der sie von einem kurzen Arbeitsvertrag zum nächsten ziehen, ist es schwierig, sie gewerkschaftlich zu organisieren und bessere Bedingungen zu erkämpfen«, sagt Tezcan Acu, ein Bauarbeiter und Mitglied der Baugewerkschaft İnşaat-İş. Bei wichtigen Großprojekten, deren pünktliche Fertigstellung höchste Priorität habe, sei der Druck auf die Beschäftigten besonders hoch.

Offiziellen Stellen zufolge sind beim Bau des neuen Flughafens bis Anfang Dezember mindestens 52 Arbeiter ums Leben gekommen; unabhängige Stellen berichten hingegen von 400 Todesopfern. Im September, wenige Wochen vor der Einweihung des Flughafens, traten dort Arbeiter nach tödlichen ­Arbeitsunfällen in einen Streik, um gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen zu protestieren (Jungle World 39/2018). Hunderte von ­ihnen wurden festgenommen, darunter auch einige von Acus Kollegen aus der Gewerkschaft İnşaat-İş. Als Ende November bei einem Unglück auf der Baustelle einer Zufahrtsstraße außerhalb Istanbuls drei Arbeiter starben, reagierten die ­Behörden nicht etwa mit Bemühen um Aufklärung, sondern mit einem Berichterstattungsverbot.

Dass die Angst der Regierung vor ­Arbeitskämpfen im Bausektor wächst, liegt unter anderem an der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des vergangenen Jahrs. 2018 sind die Zinsen stetig gestiegen und die türkische Lira hat stark an Wert verloren. Der Bauboom scheint abzuflauen und damit droht das Ansehen Erdoğans bei seinen Wählerinnen und Wählern zu sinken; es könnte zur Rezession oder gar zu einem Crash kommen. Auch wenn dies Gegnerinnen und Gegnern der Baupolitik Erdoğans entgegenkommen mag, scheint dies im Moment vor ­allem zu noch schwierigeren Bedingungen für Arbeiter und Regierungskritiker zu führen.