Festnahme des russischen Journalisten Iwan Golunow

Die aufgeflogene Provokation

In Russland stieß die vorübergehende Festnahme des Journalisten Iwan Golunow auf großen Protest. Auch verschiedene Zeitungen hatten sich gemeinsam für seine Freilassung eingesetzt.

Der Fall Iwan Golunow begann wie Hunderte andere zuvor. Am Nachmittag des 6. Juni erschien der 36jährige Journalist nicht zu einem vereinbarten Treffen. Erst in der Folgenacht erfuhr eine Kollegin vom zuständigen Moskauer Strafermittler, Golunow sei ­wegen versuchten Drogenhandels in Gewahrsam. Als Beweismittel dienten 3,56 Gramm der Aufputschdroge Mephedron, die in seinem Rucksack gefunden worden seien, und 5,42 Gramm Kokain, das Polizisten später bei einer Hausdurchsuchung sichergestellt haben wollen. Als Golunow nach Ablauf der zulässigen Frist vor dem Haftrichter erschien, wies er äußerliche Spuren von Misshandlungen auf. Ihm hätten mindestens zehn Jahre Freiheitsentzug gedroht, hätte die Angelegenheit nicht eine untypische Wendung genommen.

Anders als zu erwarten, rief dieses Vorgehen der Polizei, das den gesetzlichen Vorschriften so wie häufig bisher zuwiderlief, so viel öffentlichen Unwillen hervor, dass Golunow zunächst zu Hausarrest verdonnert wurde, bis die Ermittlungsbehörde fünf Tage nach seiner Festnahme das Verfahren gegen ihn komplett einstellte. Zu viele Fehler hatte sich die Polizei erlaubt und sogar den Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow blamiert. Dieser hatte sich in einem Kommentar zum Fall auf die Echtheit angeblich bei der Hausdurchsuchung entstandener und von der Polizei veröffentlichter Fotos verlassen, die dokumentieren sollten, dass Golunow in seiner Wohnung ein regelrechtes ­Drogenlabor betreibt. Doch stellte sich schnell heraus, dass die Aufnahmen woanders entstanden waren. Nach Golunows Angaben wurde er festgenommen und zu der Hausdurchsuchung gebracht, die Polizei war bereits anwesend. Letztlich sah sich die Behörde gezwungen, ihren Fehler einzugestehen.

Zu dem Zeitpunkt lief die Solidaritätskampagne bereits auf Hochtouren. Vor dem Polizeipräsidium bildete sich eine lange Schlange von Demonst­ranten, die sich jeweils bei einer Einzelkundgebung, die in Russland keiner Genehmigung bedarf, für einige Minuten mit einem Plakat aufstellten. In Golunows Lage, so die Botschaft russischer Medienschaffender, könne jeder von ihnen geraten. Golunow zählt nicht zu den Journalisten, die auf einen hohen Bekanntheitsgrad versessen sind, seine gut recherchierten Texte, insbesondere zu mafiösen Geschäftspraktiken der Moskauer Verwaltungsbehörden, stoßen aber auf großes Interesse. Zudem stellt er sich nicht als erklärter Regimegegner dar, selbst wenn sein Hauptarbeitgeber, das in Riga ansässige Onlineportal Meduza, zu den regierungskritischen Medien zu rechnen ist. Das hat dazu geführt, dass sich viele im Medienbetrieb von der Verhaftung persönlich betroffen fühlten.

Erstmals einigten sich drei russische Tageszeitungen – Kommersant, Wedomosti und RBK –, die in erster Linie als Wirtschaftsmedien fungieren, auf eine einheitliche Titelseite mit einer gemeinsamen Erklärung. Darin wurde ein transparentes Ermittlungsverfahren gefordert und die These aufgestellt, der Grund für Golunows Festnahme sei dessen berufliche Tätigkeit. Der Inves­tigativjournalist hatte beispielsweise die Amtspraxis des langjährigen stellvertretenden Moskauer Bürgermeisters Pjtor Birjukow untersucht.

Wahrscheinlicher jedoch ist, dass hinter dem Versuch, durch Golunows Diskreditierung als vermeintlicher Drogendealer ein abschreckendes Beispiel zu liefern, die Hauptfiguren seiner jüngsten Recherche stehen. Am Tag seiner Festnahme hatte Golunow der Redaktion die erste Rohfassung des zweiten Teils einer Serie über das extrem lukrative Moskauer Beerdigungswesen vorgelegt. Im ersten Teil hatte er das Zusammenspiel von Verwaltungsbehörden, dem Sicherheitsapparat und kriminellen Banden beschrieben. In der Fortsetzung stehen Mitarbeiter des Inlandsgeheimdiensts FSB im Zentrum, darunter Oberstleutnant Marat Medojew. Der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj veröffentlichte prompt Materialien über die alles andere als bescheidenen Besitzverhältnisse Medojews. Später legte die Nowaja Gaseta nach.

Die Polizei habe Journalisten den Krieg erklärt, hatte sich die Nowaja Gaseta  zuvor echauffiert. Im Unterschied zu den drei zuvor genannten Zeitungen profiliert sie sich auch durch Enthüllungsjournalismus. Dass führende russische Medien unisono harsche Kritik an der Behinderung ihrer Arbeit üben, mag nicht zuletzt an ihrem Selbsterhaltungstrieb liegen. Erst kürzlich feuerte Alischer Usmanow, ein Medienmagnat und Großaktionär des Kommersant, Journalisten, nachdem diese in dem Blatt über einen möglichen Rückzug von Walentina Matwijenko vom Vorsitz des Föderationsrats berichtet hatten. Abseits der Metropolen sind Journalisten fast noch mehr Risiken ausgesetzt, insbesondere, wenn sie über dort herrschende Missstände an ­berichten. Ende April kam der tschetschenische Journalist Schalaudi Galijew frei, nachdem er eine dreijährige Haftstrafe wegen angeblichen Drogenbesitzes abgesessen hatte. Von Zensur mag in Russland kaum jemand sprechen, aber faktisch können Recherchen über die maßlose persönliche ­Bereicherung von Angehörigen des Machtapparats nur noch in ausgewählten Medien publiziert werden – oder wenn doch einmal ein Kleptokrat vor Gericht landet.

Ob es zu einem Verfahren gegen jene kommt, die Golunow, der in ein staat­liches Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde, die Drogen unter­geschoben haben, ist offen. Der Kreml zog sich bislang recht elegant aus der Affäre: Zuerst stimmte das Staatsfernsehen in die Forderung nach einer Aufklärung der Hintergründe von Golunows Festnahme ein, Matwijenko wollte gar eine gezielte Provokation nicht ausschließen. Dann folgte die Entlassung zweier hochrangiger Polizisten. Der Polizei eine öffentliche Rüge zu erteilen, ist keine Niederlage, sondern Teil eines gezielt betriebenen Verwaltungskonzepts. Anders als FSB-Mitarbeiter sind Polizisten nicht un­antastbar; die Regierung erkennt auf diese Weise an, dass es ein Problem gibt. Unerwünschte Nebeneffekte brachte der jüngste Skandal dennoch mit sich. So überschattete der Fall ­Golunow in der Medienberichterstattung tagelang Präsident Wladimir ­Putin und das zu der Zeit in St. Petersburg stattfindende Wirtschaftsforum.

Immerhin wurde Golunow freigelassen, vermutlich unter der Bedingung, dass seine Arbeitgeber ihren Aufruf zu einer Solidaritätsdemonstration am 12. Juni zurückziehen. Eine alternative Initiativgruppe machte ebenfalls ­einen Rückzieher, als die Moskauer Behörden eine Genehmigung für den ­geplanten Protestmarsch verweigerten.

Wenn aber überhaupt von Schwäche gesprochen werden kann, dann wegen der Unfähigkeit der Opposition, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Obwohl mangels einer Genehmigung das Risiko hoch war, fanden sich am 12. Juni an die 10 000 Menschen ein – 549 wurden festgenommen. Doch klar formulierte Forderungen gab es nicht, nicht einmal den Versuch, die Empörung in einer Kampagne gegen alltägliche Polizeiwillkür im Kampf gegen Drogenkonsum aufzugreifen, obwohl von der Repression auch politische ­Aktivisten betroffen sind. Über ein Drittel der Häftlinge in russischen Gefängnisse sitzt wegen Drogendelikten ein.

Offen bleibt die berechtigte Frage, die eine Demonstrantin auf ihrem ­Plakat stellte: »Und wenn du kein Journalist bist?«