Die Radikale Linke und Europa

Die Politik des Tränengases

Der Legitimationskrise der EU wollen linke und liberale Parteien durch Reformen entgegentreten. Doch deren Politik ist kein Mittel gegen auto­ritäre Tendenzen in Europa.

Nun soll es also die EU richten. Jahrelang hat die radikale Linke sich damit herumgeschlagen, Staat und Kapital zu denunzieren. Die hoffnungsvolle Ana­lyse, die in Zeiten der Krise der bürgerlichen Gesellschaft den Ausbruch von Revolten erwartet, scheint derzeit nicht abwegig. Gleichzeitig bewahrheitet sich auch eine böse Vorahnung und die Fetischisten des autoritären Staates strecken ihre Fühler aus, um Staat und Gesellschaft mit Hilfe bürgerlicher Politik und Öffentlichkeit in eine Komandoveranstaltung nach ihrem Geschmack umzuwandeln.

Es scheint, als sei die EU in Folge der Krise ein Versuchslabor des autoritären Staates geworden.

Angesichts dessen entdeckt Mark Wester von der kommunistischen Gruppe Theorie Organisation Praxis (TOP) Berlin sein Herz für die Errungenschaften des bürgerlichen Staatenbunds EU. Er beschwört die Stärkung von Gleichberechtigung und Grundrechten durch deren Insti­tutionen. Welche Errungenschaften er genau meint, schreibt er nicht. Beispielsweise bleibt die Gesetzgebung zur Abtreibung immer noch den einzelnen Staaten überlassen und der Schwangerschaftsabbruch wird je nach Stärke der katholischen Kirche und Größe der rechten Bewegungen geregelt – bis hin zum Verbot. Ähnlich verhält es sich mit den Grundrechten, bei deren Durchsetzung etwa in Ungarn die EU sehr zögerlich agiert. Polen und Großbritannien haben sich nicht einmal der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterstellt, was aber ihrem Verbleib in der EU nicht entgegensteht. Nur im Verwehren von Rechten scheinen sich die EU-Staaten einig zu sein, die Europäische Grenz- und Küstenwache Frontex wurde in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebaut.

Dagegen werden die Gesetze, welche die EU als einen einheitlichen Binnenmarkt betreffen, mit deutlicher höherem Engagement durchgesetzt. Die EU als große Freihandelszone wird in Richtlinien festgeschrieben und nationale Abweichungen vom Prinzip des freien Verkehrs von Waren und Personen unterbindet die EU mit Sanktionen.

Dem Staatenbund geht es aber nicht um eine grundsätzliche Freizügigkeit von Personen. Während jede Arbeitskraft eines Mitgliedsstaats sich frei innerhalb der EU-Grenzen bewegen kann, um einen der schlecht bezahlten Jobs zu ergattern, die der europäische Norden vor allem für Menschen aus Süd- und Osteuropa bereithält, bleiben diese dennoch innerhalb des Staatenbundes Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Geflüchtete ertrinken weiterhin im Mittelmeer.

Der deutsche Sozialstaat beispielsweise hält für EU-Bürgerinnen und -Bürger ohne deutschen Pass einige Regelungen bereit, die diesem Personenkreis den Bezug von Sozialleistungen erschweren. Grundsätzlich unterscheiden sich innerhalb der EU die Modelle, wie Sozialleistungen gewährt werden, erheblich. Während in Deutschland ein ausgebautes System sozialer Sicherungen existiert, das seit Implementierung der »Agenda 2010« ein reichhaltiges Arsenal an Zwangsmaßnahmen und Kürzungsmöglichkeiten bereithält, hat beispielsweise Griechenland gar keine Sozialhilfe, weshalb auch die Auseinandersetzungen um die Rente während der Krise so erbittert waren. Dieser Flickenteppich der Sicherungssysteme ist aber gewollt. Die EU ist vor allem ein großer Arbeitsmarkt, auf dem die Lohnabhängigen um Arbeitsplätze konkurrieren, während die Nationalstaaten versuchen, die Lohnkosten niedrig zu halten.

Um die EU vor nationalistischen und autoritären Tendenzen zu retten, empfahl Wester, bei der Europawahl für eine der »linksdemokratischen und proeuropäischen Parteien« zu stimmen. Diese sollen die vermeintlichen Errungenschaften der EU verteidigen und den Vormarsch der extremen Rechten zurückdrängen.

Welche Parteien er konkret meint, lässt Wester zwar offen, aber derzeit stehen insbesondere zwei Parteien für die von ihm skizzierte Strategie. Die griechische Syriza war die große Hoffnung einer reformorientierten Linken in Europa. Sie trat mit der Absicht an, das vor allem von der deutschen Regierung ausgehende Spardiktat zu brechen und einen modernen Reformismus in der EU mehrheitsfähig zu machen. Besonders proeuropäisch, dafür weniger sozialreformerisch und alles andere als links war hingegen Emmanuel Macrons Partei En Marche. Er war der Konsenskandidat gegen Marine Le Pens Rassemblement National (RN, vormals Front National) und steht für ein bürgerliches Frankreich, in dem sich die Bevölkerung weder auf die Seite der geschwächten Sozialdemokratie noch auf die Seite der Konservativen stellen wollte.

Sowohl in Syriza als auch in En Marche sehen, ähnlich Westers Vorstellung, viele Linke und Liberale ein Bollwerk gegen die rechten und nationalistischen Tendenzen. Nur stehen in Wahrheit beide Parteien für eine Politik des Tränengases. Sie setzen gegen heftigen Widerstand auf der Straße Reformen durch, die vor allem schlecht bezahlte Lohnabhängige treffen. Macron nutzt zudem die autoritären Befugnisse des Präsidentenamtes stärker als seine Vorgänger und übertrug Maßnahmen des Ausnahmezustands in die regulä­re Gesetzgebung.
Es scheint, als sei die EU in Folge der Krise ein Versuchslabor des autoritären Staats geworden. Es ist besonders ironisch, dass Wester offenbar glaubt, jene linken und liberalen Parteien seien geeignet, die autoritären Tendenzen in Europa aufzuhalten. Gegenwärtig betätigen sie sich vielmehr als deren unfreiwillige Wegbereiter.

Syriza mag als Reformalternative zur sterbenden Sozialdemokratie in Europa und En Marche als liberales Bollwerk gegen den Faschismus erscheinen. Doch ihre derzeitige Position verdanken sie nicht etwa einem breiten Konsens in Europa gegen die extreme Rechte, sondern vor allem dem Niedergang der etablierten Parteien. Der Teilnahme an Wahlen in bürgerlichen Demokratien standen Linksradikale zu Recht immer kritisch gegenüber. Denn der bürgerliche Staat ist immer der Staat des Kapitals. Seine Grundstruktur sichert die Voraussetzungen für die Ausbeutung von Arbeitskraft. Innerhalb der Strukturen einer bürgerlich-repräsentativen Demokratie sind bestimmte Forderungen von unten gar nicht umsetzbar und es ist daher heutzutage komplett illusorisch, vom Wählen zu viel zu erwarten.

Die Alternativlosigkeit bürgerlichen Regierens hat sich in der gegenwärtigen Krise auf brutale Weise offenbart. Keine bedeutende Partei fand sich, die auch nur die ­reformistischen Interessen der Lohnabhängigen vertreten wollte. Immer ging es nur darum, die Bedingungen der Kapitalverwertung zu verbessern, indem mit allen Mitteln die Kosten der Arbeit und die Staatsausgaben für Soziales gesenkt werden sollten. Dadurch wurde die europäische Krise auch eine Krise der Repräsentation. Das sah man nicht nur an den ratlosen Gesichtern des politischen Personals der EU, wenn über Schulden, Leitzinsen und Sozialgesetze verhandelt wurde, sondern auch an den politischen Bewegungen, die in Europa aufkamen und aufkommen.

Während der griechischen Krise waren Anarchisten und Autonome eine treibende Kraft auf der Straße. Große Demonstrationen vor dem Parlament, die oft zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führten, hat es auch nach dem Regierungsübernahme von Syriza gegeben. Dies zeigt, dass eine Arbeitsteilung zwischen sozialen Bewegungen auf der Straße und linksreformistischen Regierungen eine Illusion ist.

Als Reaktion auf die Krise entstanden in Griechenland Formen autonomer Organisierung von unten. Zwar waren sie oft nur Elendsverwaltung in einer Krisenökonomie, ob in selbstverwalteten Fabriken oder besetzten Hotels, die Geflüchteten ein Obdach bieten. Sie kommen aber dem Anspruch von Anignung und Basisdemokratie näher als jedes Gesetz der Reformregierung.

In Frankreich bot sich in den vergangenen Jahren ein ähnliches Bild. Die sozialdemokratische Regierung versuchte, die Arbeitsgesetze an das deutsche Modell mit niedrigen Lohnkosten und einem autoritären Sozialstaat anzupassen. Das Ergebnis waren große Versammlungen von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden, die nicht selten der Logik autonomer Demonstrationen folgten. Der sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS), vorgeblich die Partei für Arbeitnehmerrechte, hatte sich gegen die Lohnabhängigen gestellt.

Aber auch die Platzbesetzungen in Paris und in spanischen Städten sperrten sich gegen die Repräsentation durch eine Partei oder gar das Parlament. Sie waren zwar politisch viel diffuser als die Demonstrationen, aber sie zeugen davon, dass die politischen Parteien in Europa ihre integrative und repräsentative Funktion verloren haben.

In Frankreich hat sich der Tränengasnebel immer noch nicht gelichtet. Mit den Gelbwesten ist eine Bewegung auf den Plan getreten, die wegen ihrer antisemitischen und rassistischen Ausfälle sehr kritisch gesehen werden muss. Gleichzeitig spiegeln sich in dieser Bewegung die Zustände innerhalb der EU: Ein großer Teil der europäischen Lohnabhängigen ist prekarisiert und die Verlaufsformen der Bewegungen orientieren sich noch weniger an Parteiprogrammen als früher. Soziale Bewegungen folgen entweder einer autonomen bis insurrektionalistischen Logik oder aber sie sind ideologisch diffus und teilweise sogar offen rechtsextrem. Keinesfalls sind sie aber reformistisch integrierbar. Wenn die radikale Linke dem steigenden Einfluss der Rechten entgegenwirken will und den Anspruch auf Revolution nicht komplett aufgegeben hat, sollte sie zurück auf die Straßen und Plätze, in die Betriebe und Stadtteile – aber ganz sicher nicht in die Parlamente.