Migrantenherberge für LGBTI in Ciudad Juárez

Vorübergehend zu Hause

Die US-Regierung hat die Südgrenze für Geflüchtete geschlossen. Diese stranden in mexikanischen Grenzstädten, viele von ihnen werden in Herbergen der katholischen Kirche betreut. LGBTI werden dort allerdings oft angefeindet. In Ciudad Juárez haben migrantische LGBTI daher eine eigene Herberge gegründet.

Tanya*, Fiona* und Miracle* lehnen an der Brüstung der Dachterrasse, Wäsche flattert auf der Leine. Die Abendsonne taucht die Szene in mildes Licht. Jenseits der Grenze liegen die Franklin Mountains von El Paso, Texas, auf die sie blicken. Von hier aus, dem Zentrum der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, sind die Vereinigten Staaten nur einen Katzensprung entfernt – das Land, das die drei wie alle Hausbewohnerinnen und -bewohner erreichen wollen. Hier in der neuen Herberge »Respetttrans« haben sie sich notgedrungen eingerichtet. Der rosafarbene Kastenbau steht in einer unbefestigten Sackgasse unweit eines Kanals, in dem nur selten Wasser fließt.

»Sowohl Jugendbanden als auch die Polizei betrachten Transsexuelle als Freiwild, als Menschen ohne Rechte, als Abschaum.«

»Wir haben den Traum, endlich frei zu leben, ohne Angst«, sagt Fiona. Sie streicht ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht. Die 21jährige Transfrau aus El Salvador hatte sich zunächst mit ihrem Leben in Soyapango abgefunden, einer Satellitenstadt der Hauptstadt San Salvador. Ein Leben in bitterer Armut, mit der kleinen Halbschwester und ihrer alleinerziehenden Mutter. Ein­geschlossen in einem winzigen Haus mit niedrigem Wellblechdach. Denn in El Salvador herrscht Krieg zwischen den Jugendbanden, den maras, und der Polizei. Morde und ungesetzliche Hinrichtungen sind an der Tagesordnung und für Menschen in den verarmten Vierteln ist es fast unmöglich, sich aus dem Kugelhagel herauszu­halten.
»Auf die Straße zu gehen, bedeutet einfach nur, Panik zu haben vor jedem, der dir begegnet«, sagt Fiona. »Alle haben wir zwei Handys: ein Smartphone, um schicke Selfies von daheim aus zu posten, und ein uraltes Teil, um unterwegs Anrufe machen zu können. Denn immer musst du Angst vor Überfällen haben.« Sie sei eigentlich kaum noch aus dem Haus gegangen. »Sowohl die Mitglieder der Jugendbanden als auch die Polizei betrachten Transsexuelle als Freiwild, als Menschen ohne Rechte, als Abschaum. Sie bringen uns um, weil sie nicht verstehen können, dass wir anders leben und lieben wollen.«

Hier sind alle willkommen: die Herberge »Respetttrans« in Ciudad Juárez im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua.

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Carolina Rosas Heimpel

Sie habe alle zurücklassen müssen, die sie liebte, sagt Fiona. Denn eines Tages hätten Anhänger der maras gedroht, wegen ihrer Geschlechtsidentität ihre Mutter und Schwester umzubringen – auf dem Weg zum Markt, auf dem Weg zur Schule. Unweit ihres Zuhauses sei bald darauf eine Transfrau ermordet worden. »Sie haben ihr Steine an die Beine gebunden und sie in den Fluss geworfen, damit sie qualvoll ertrinkt. Ich wollte nicht die nächste sein«, sagt Fiona ernst und traurig.

Tanya und Miracle sagen zunächst nichts. Gegenseitig haben sie sich ihre Geschichten schon oft erzählt, irgendwo auf dem Weg durch Mexiko, das so unendlich groß ist verglichen mit El Salvador. Schließlich ergreift Miracle, die Frau mit dem grünen Irokesenschnitt und den Tattoos, das Wort. »Unsere Präsidenten und Politiker sind korrupt und scheren sich nicht um ihre Landsleute, die in Elend und Gewalt leben müssen«, sagt er. Die Mitglieder der Jugendbanden hätten ihn immer wieder bedroht, weil er schwul ist. Doch schließlich seien es Polizisten gewesen, die ihn eines Tages auf der Straße aufgriffen und fast zu Tode geprügelt hätten. »Sie sagten: Entweder schaffen wir es, dich zum Mann zu machen, oder wir schlagen dir den Kopf ab. Deshalb entschloss ich mich zu gehen. Ich habe mir die Füße wundgelaufen, in der Sonne, im Regen, ich habe Menschen sterben sehen auf dem Weg. In den Karawanen machten sie sich über uns lustig und in manchen Orten, durch die wir zogen, warf man Steine auf uns oder versuchte, uns zu vergewaltigen.«

Grenze dicht

Nach 3 500 Kilometern zu Fuß und im Bus, Wochen und Monaten unterwegs, sind die Migrantinnen und Migranten, einer nach dem anderen und in kleinen Gruppen, hier angekommen, im mexikanischen Ciudad Juárez. Von der US-amerikanischen Zwillingsstadt El Paso trennen Ciudad Juárez von Suchscheinwerfern ausgestrahlte Beton­kanäle, Maschendrahtzäune und eine Sperranlage aus hohen rostbraunen Stelen, die in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebaut wurde. Eine lange Zeit wird die kleine LGBTI-Exilgemeinde aus El Salvador und Honduras in der 1,3 Millionen Einwohner zählenden Stadt wohl verbringen müssen, die in den vergangenen Monaten um ein paar Tausend Menschen aus Mittelamerika, Kuba und sogar Russland und dem Kongo angewachsen ist.

»Mir werden die Menschen übergeben, aber sonst rein gar nichts. Keine Unterkunft, keine Lebensmittelspenden, kein Geld!«

Im Januar hat die US-Regierung von Präsident Donald Trump den neuen mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador dazu gebracht, Mexiko in einen Wartesaal für Asylsuchende zu verwandeln. Geflüchtete mit dem Ziel USA sollen bis auf Weiteres in Mexiko bleiben. Während ihr Asylantrag in den USA bearbeitet wird, können sie zurück nach Mexiko geschickt werden. Seitdem werden Menschen auf der Flucht auf den drei Brücken über den Grenzfluss Río Bravo zurückgewiesen. Dort, wo täglich Menschen im Auto und zu Fuß zwischen den beiden Grenzstädten verkehren, um auf der jeweils anderen Seite zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder Verwandtenbesuch zu gehen, sammelten sich im Winter die Geflüchteten und harrten in eisigen Böen aus, um von der US-Einwanderungsbehörde angehört zu werden. Diese gab die Arbeit an die Regierung des Nachbarlandes ab. Nun stehen Menschen aus Mittelamerika und Kuba Schlange vor den Büros der mexikanischen Consejos Estatales de Población (Coespo, etwa: Staatsbevölkerungsräte), um sich in einer Warteliste einzutragen. Die Geflüchteten hoffen auf eine Einreiseerlaubnis in die USA, um dort einen Asylantrag zu stellen.

Schwer zu überwinden: die Grenze zwischen Mexiko und den USA am Río Bravo.

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Carolina Rosas Heimpel

Die kirchliche Migrantenherberge im Süden von Ciudad Juárez, die Casa de Migrante, eine Ansammlung von Backsteinbauten hinter schmiedeeisernen Toren, nahm Hunderte Menschen auf und baute die Kapazitäten aus. Einrichtungen katholischer Gemeinden wurden zu Unterkünften umfunktioniert. So blieb die große humanitäre Krise bislang aus. Doch für migrantische LGBTI erfüllen die Schutzräume oft nicht ihre Funktion.

»Wie gut, dass ich nicht mehr in der Herberge bin«, seufzt Diana*, eine Transfrau mit Afro, erleichtert. Sie komme von der honduranischen Karibikküste, in der Casa de Migrante hätten ihr andere Geflüchtete an der Essensausgabe die Getränke verweigert, erzählt sie. Von Angestellten sei sie auf die Männertoilette geschickt worden. »Ich träume davon, in einem Land zu leben, in dem ich so sein, so leben und aussehen kann, wie ich will«, sagt Diana. Honduras sei vom Hass gegen LGBTI geprägt und von einem Unrechtsregime geführt. »Wenn schon normale Menschen unter der Diktatur leiden, stell dir vor, wie es für uns Schwuchteln ist«, sagt die junge Frau.

Zumindest in diesem dreistöckigen Haus im Zentrum einer staubigen Grenzstadt kann sie so sein, wie sie will. »Hier haben wir einen Ort, den wir ­vorübergehend als Zuhause empfinden können«, sagt Diana. Im Haus von »­Respetttrans« leben Schwule, Lesben, Hetero- und Transsexuelle einvernehmlich zusammen. »Manchmal sind wir frustriert, hier einfach nur zu sitzen und zu warten. Gerade sind wir 18 Leute, von weiteren wissen wir, dass sie auf dem Weg durch Mexiko sind. Hier sind alle willkommen, denn sie haben das Gleiche durchgemacht wie wir«, sagt Diana und macht es sich in Shorts und Turnschuhen auf dem Sofa bequem. Sie sitzt unter einem Regenbogenbanner, die Möbel sind abgenutzt, der alte Kühlschrank kämpft polternd gegen die Hitze an. Zwei Mitbewohnerinnen bereiten in der offenen Wohnküche pupusas zu, gefüllte Maistortillas, wie sie in El Salvador üblich sind. Im Radio läuft Reggaeton, karibische Hits, die alle leise mitträllern. Die Stimmung ist entspannt.

Transfrauen in Gefahr

In der kirchlichen Migrantenherberge war es wegen permanent sich wiederholender Diskriminierungsfälle zum Eklat gekommen. Seither ist die kleine Gruppe hier untergebracht. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es eine autonome LGBTI-Herberge gibt, sondern vielmehr die Errungenschaft ­einer stadtbekannten Trans- und Gesundheitsaktivistin: Grecia Herrera. Die eindrucksvolle Frau mit dem hellblonden dicken Zopf trägt stets eine petrolfarbene Krankenpflegeuniform. Sie ist die Ruhe in Person und strahlt Durchsetzungsvermögen aus, was sie zur unbestrittenen Anführerin macht. Seit ihr Staat und Kirche großzügig geflüchtete LGBTIs übergeben, kann die Gattin eines US-amerikanischen Fernfahrers und Mutter einer Teenagerin kaum noch schlafen.

Für Pendler und Touristen passierbar.

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»Mir werden die Menschen übergeben, aber sonst rein gar nichts. Keine Unterkunft, keine Lebensmittelspenden, kein Geld«, sagt Herrera. Die patente Stadtangestellte setzt sich seit drei Jahrzehnten dafür ein, dass HIV-Infizierte, Drogenabhängige, Prostituierte und Transsexuelle Zugang zum Gesundheitssystem erhalten. Die neue Herberge unterhält sie aus eigener Tasche und mit Spenden aus den USA – dem nahen und doch so fernen Ziel seiner Bewohner und Bewohnerinnen. Manchmal bekommt jemand dort Geld von Familienangehörigen geschickt. Dann wird es mit allen geteilt. Lesbische und schwule Herbergsbewohnerinnen und -bewohner versuchen, zum Haushaltseinkommen beizutragen. Herrera vermittelt sie als Arbeitskräfte an Baumarktbesitzer und Altenheime.

»Doch für Transfrauen ist Ciudad Juárez zu gefährlich«, sagt sie. Der einzige Arbeitssektor, in dem sie akzeptiert würden, sei die Prostitution. Ciudad Juárez ist derzeit vor allem bekannt für seine Montagefabriken und den Kampf der Kartelle um die Vorherrschaft über den Grenzübergang zu den USA. Traditionell lebt die Stadt aber vom Tourismus aus Texas und dem ausgeprägten Nachtleben mit Bars, Kabaretts, Diskotheken und Casinos. »Doch dort gefährden Transfrauen ihr Leben. Nicht zu vergessen ist, dass ­Ciudad Juárez auch die Stadt der Frauenmorde ist. Und diese schließen Hassmorde an Transsexuellen mit ein«, so Herrera. Etwa im Fall einer jungen ­Kolumbianerin, die im Stadtteil Anapra geköpft wurde. Herrera sei damals eigenständig nach Mexiko-Stadt gereist, um mit Hilfe der kolumbianischen Botschaft die Rückführung des Leichnams zur Familie zu organisieren.

Die salvadorianischen und honduranischen Transfrauen in der neuen Herberge respektieren die Sicherheitsvorschriften und gehen nur noch aus, wenn es unvermeidbar ist. Auf der steinernen Treppe spielen die kleinen Kinder eines lesbischen Paars mit dem Nachwuchs einer buntgescheckten Katze. Die Eingangstür scheint ein bizarres Kunstwerk aus schmiedeeisernen Verstrebungen und neuen und alten Vorhängeschlössern. Auch wenn die sanitären Einrichtungen heruntergekommen sind und alle auf Matratzen auf dem Boden schlafen, fühlt sich die zusammengewürfelte Notgemeinschaft hier sicher. Morgens wird durchgefegt und Frühstück für alle gemacht.

Herrera hat große Pläne: »Ich bettele darum, dass mir die Stadt eine verlassene Klinik überlässt, aber sie halten mich hin. Denn es geht nicht nur um Wohnraum, es geht auch um Gesundheitsversorgung. In den öffentlichen Krankenhäusern schiebt man uns mit einem Notfall gerne auf die lange Bank: ›Migranten, und dann noch solche – die können erstmal warten‹, steht auf den Gesichtern des Personals geschrieben. Wir müssen in teure Privatkliniken gehen und Geld auf den Tisch legen.«

Permanent im Wartestand

Die Diskriminierung wegen Herkunft, sexueller Identität und Orientierung sei allgegenwärtig und könne Leben kosten – diesseits wie jenseits der Grenze, so Herrera. Wie das von Joa Medina, einer 25jährigen Transfrau aus El Salvador, die am 1. Juni in einem Krankenhaus in El Paso verstarb. Zwei Monate lang war sie in Gewahrsam der US-Einwanderungsbehörde (Immigration and Customs Enforcement, ICE) in New Mexiko gewesen, wo sich ihr Gesundheitszustand wegen einer HIV-­Infektion immer weiter verschlechterte. Unter denselben Umständen war eine Transfrau aus Honduras, Roxana Her­nán­dez, vor genau einem Jahr ums ­Leben gekommen. »Die Musik, die wir in unserem Inneren tragen, dient dazu, all das Grauen zu übertönen, das wir erleben«, sagt Herrera leise und tritt vor die Tür der Herberge in der nicht asphaltierten Nebenstraße.

Eine Bewohnerin von »Respetttrans« zeigt die Trans-Pride-Flagge.

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Carolina Rosas Heimpel

»Ich bin Grecia sehr dankbar«, ergreift Lulú* das Wort, eine zierliche 40jährige mit kurzen blondgefärbten Locken, die still gefegt hatte. »Diese ­Erfahrung der Gemeinschaft, die wir hier machen, werde ich nie vergessen.« Ihre streng katholische Familie habe sie immer zurückgewiesen. Schon als sie sich einer Freikirche zugewandt habe und nach ihrem lesbischen Coming-out erst recht. »Nur weil du anders bist, wirst du verstoßen. Aufgrund dieser Erfahrung, die wir hier alle teilen, versuchen wir, niemandem den Rücken zuzuwenden und respektvoll zusammenzuleben.« Es sei ein Privileg, in diesem Haus zu sein, und der letzte Schritt auf dem Weg in die USA. »Wir wissen, wer wir sein möchten, und darum sind wir hier und warten auf den Eintritt in eines der liberalsten Länder der Welt«, so Lulú.

Das Warten wird sicher noch eine ganze Weile dauern. Pro Tag lässt der US-Grenzschutz 30 bis 50 Asylsuchende, die auf der Warteliste stehen, für eine erste Anhörung im Asylverfahren ins Land. Wer dabei »glaubhaft« Angst vor Verfolgung vorbringen kann, soll nach Mexiko zurückkehren und schätzungsweise drei bis fünf Jahre auf ein Urteil im Asylprozess warten. Alleinerziehende Mütter und Transfrauen sollen bevorzugt behandelt werden und höchstens ein Jahr auf den Asylentscheid warten. Ohne Rechtsberatung ist der positive Ausgang eines Asylverfahrens jedoch nahezu unmöglich – und Experten für das US-amerikanische Recht sind auf der mexikanischen Seite der Grenze schwer zu finden.

Wer dieser Tage in der Stadt ankommt, wird der Warteliste zufolge bis nächstes Jahr auf eine erste Anhörung in den USA warten müssen. So füllt sich die mitten in der Wüste gelegene Industriemetropole Ciudad Juárez, die einst durch Zuzug aus anderen mexikanischen Bundesstaaten anwuchs, immer weiter mit aus dem Süden Anreisenden und aus dem Norden Zurückgeschobenen.

Kürzlich kündigte die mexikanische Regierung an, dem Druck der USA nachzugeben und auch die eigene Südgrenze zu Guatemala und Belize stärker gegen Migrantinnen und Migranten zu sichern. 6 000 Angehörige der neuen, aus Armee und Polizei zusammengesetzten Nationalgarde sollen an der Grenze zu Guatemala stationiert werden, um die Flucht aus Mittelamerika und anderen Regionen der Welt in die USA aufzuhalten.

* Name von der Redaktion geändert.