04.07.2019
Entschädigung von Holocaust-Überlebenden

Sein größter Sieg

Salo Muller ist in den Niederlanden als Ex-Physiotherapeut von Ajax Amsterdam bekannt. Doch seinen größten Erfolg hat er nun abseits des Fußballfelds errungen: Er zwang die niederländische Bahn, Holocaust-Überlebende zu entschädigen.

Das Kürzel NS hat in den Niederlanden eine recht harmlose Bedeutung. Es steht in der Regel nicht etwa für den Nationalsozialismus, sondern für das Eisenbahnunternehmen Nederlandse Spoorwegen. Allerdings verdiente dieses in der Zeit der deutschen Besatzung etwa zweieinhalb Millionen Gulden mit dem Transport von Juden, Sinti und Roma. In Viehwagen zusammengepfercht, wurden diese erst ins Durchgangslager Westerbork im Norden des Landes und von dort in Vernichtungslager wie Auschwitz oder Sobibor deportiert. Von 110 000 transportierten Häftlingen überlebten gerade einmal 5 000.

Erst 2005 entschuldigte sich das Unternehmen für seine Rolle während des Holocaust.

In der vergangenen Woche gab die Leitung des Unternehmens bekannt, 500 noch lebende Opfer der Zwangs­transporte mit jeweils 15 000 Euro zu entschädigen. Zudem sollen auch 5 500 Angehörige bereits verstorbener Opfer eine Kompensation erhalten: Witwen und Witwer je 7 500 Euro, Kinder entweder 5 000 oder 7 500 Euro. Damit folgt das Management der Empfehlung einer eigens eingesetzten Kommission unter der Leitung des einstigen Vorsitzenden der Arbeitspartei, Job Cohen, die sich in den vergangenen Monaten mit dem Thema beschäftigte.

Roger van Boxtel, der Direktor von NS, sagte, insgesamt gehe es um einige Dutzend Millionen Euro: »Natürlich macht kein einziger Geldbetrag das Leid wieder gut, aber durch diese Regelung kann ich den Opfern und Nachkommen etwas besser ins Gesicht sehen. Es trägt auch dazu bei, dass wir auf eine erwachsene Art mit unserer Geschichte umgehen.«

Um in van Boxtels Bild zu bleiben: Nederlandse Spoorwegen haben sich eine lange Adoleszenz gegönnt. Erst 2005 entschuldigte sich das Unternehmen für seine Rolle während des Holocaust. Danach beteiligte es sich an der Finanzierung von Gedenkstätten, un­ter anderem einem Denkmal für ermor­dete Juden in Utrecht, wo die Firma ihren Sitz hat; beim Nationalen Holocaust-Museum, das derzeit in Amsterdam entsteht, fungiert es offiziell als Partner. Individuelle Entschädigungen aber lehnte das Unternehmen bis vor kurzem ab.

Dass sich dies nun ändert, liegt an einem Mann, der in den Niederlanden vor allem als ehemaliger Physiotherapeut von Ajax Amsterdam bekannt ist: Salo Muller, 83, der selbst den Holoaust überlebt hat. Seine Eltern wurden von Amsterdam über Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Muller hält als Zeitzeuge Vorträge und hat seine Biographie in mehreren Büchern publiziert. Als er 2014 in der Zeitung las, dass die französische Bahn überlebenden Juden und ihren Nachkommen in den USA 60 Millionen Dollar auszahlen würde, dachte er, dies müsse auch in den Niederlanden möglich sein.

Die niederländische Bahn allerdings reagierte ablehnend, als Muller sie anschrieb. Erst nach langem Drängen und einem Fernsehbeitrag in einer renommierten Nachrichtensendung wurde er zu einem Gespräch eingeladen. Man teilte ihm jedoch mit, dass man nicht gedenke, individuelle Entschädigungen zu zahlen. Muller schaltete eine Anwältin ein und drohte mit einer Klage. Erst Ende 2018 lenkte die Bahn ein.

Mit der Entscheidung, doch Entschädigungen zu zahlen, ist Muller zufrieden. »Meine Forderungen sind zu 80 Prozent erfüllt«, kommentierte er. Die Ent­schädigungen seien »ein Pflaster auf der Wunde«, wobei das Geld nicht im Vor­dergrund stehe und auch den Schmerz nicht lindern könne. »Dies ist kein festlicher Abend.«

Kritik an der Regelung äußerte Sabina Achterbergh, die Sprecherin der Niederländischen Vereinigung von Sinti, Roma und Fahrenden. In einem Fernsehbeitrag sprach sie von einem »Schritt in die richtige Richtung«, der allerdings nicht weit genug gehe, da Geschwister oder Enkel von Opfern nicht eingeschlossen seien. »Wir leben noch immer mit dem Holocaust. Der Bruder meiner Großtante wurde ermordet, aber eine Entschädigung bekommt sie nicht dafür.«