Massenproteste in Russland

»Das sind Versuche, die Menschen einzuschüchtern«

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Interview Von

Was können Sie über die Stimmung in Moskau derzeit sagen? Die Gesellschaft wirkt extrem politisiert.
Offensichtlich. Die letzte Erhebung des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum sagt aus, dass immer mehr Menschen Protestaktionen unterstützen und bereit seien mitzumachen. Zugleich sind die Beliebtheitswerte des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin (von der Regierungspartei Einiges Russland, Anm. d. Red.) in Umfragen in den vergangenen zwei Monaten um acht Prozentpunkte gesunken. Bereits seit mehr als einen Monat gibt es jedes Wochenende Proteste, die die Stadtverwaltung entweder zugelassen hat oder die ohne Zulassung stattgefunden haben. Das sind die größten Proteste in den vergangenen 25 Jahren, wenn man die auf dem Bolotnaja-Platz 2012 einmal ausklammert. Die Proteste damals fanden einmal im Monat statt, nun gehen die Leute einmal pro Woche auf die Straße. Und es gibt konkrete Forderungen: die Zulassung von Kandidaten.

Wegen der politischen Turbulenzen hat der liberale Internetfernsehsender TV Doschd sein Programm auch für Nichtabonnenten geöffnet. Seitdem hat er über 3,5 Millionen Zuschauer. Zeigt das, dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr für Politik interessieren?
Ja. Auch politische Sendungen und Formate, die auf Youtube zu finden sind, haben deutlich höhere Klickzahlen im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr. Genauso sieht es bei Radio Swoboda aus (von der US-Regierung finanzierter Rundfunk, der ursprüngliche Name ist Radio Free Europe / Radio ­Liberty, Anm. d. Red.). Oft gibt es da einen Anstieg der ­Hörerzahl auf das Vier- bis Fünf­fache.

Der Protest auf den Straßen scheint noch nicht so groß zu sein wie zu Zeiten der Proteste nach den russischen Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011. Damals wurde, unter anderem auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, monatelang gegen mutmaßliche Wahlfälschung demons­triert, die Organisatoren sprachen teils von über 120.000 Teilnehmern. Bei den jüngsten Protesten gab es bislang keine Demonstration, an der mehr als 100.000 Menschen teilgenommen haben. Wie schätzen Sie das ein?
Schon die genehmigte Demonstration am 20. Juli steht den Bolotnaja-Protesten in nichts nach. Offiziell nahmen daran 22 500 Menschen teil. Das sind die, die den eingezäunten Bereich betreten haben. Drumherum waren noch einige mehr. Zu Zeiten von Bolotnaja gab es keine solche Deckelung der Teilnehmerzahlen (indem nur Demonstrationsteilnehmer in einem abgesperrten Bereich gezählt werden, Anm. d. Red.). Außerdem muss man berücksichtigen, dass gerade Sommer ist. 60 Prozent der Jugend ist gerade nicht in der Stadt. Die jungen Leute sind im Urlaub oder bei den Eltern.