Über das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus

Antizionismus und Antisemitismus

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II
Hier ist der Haken an der Sache: Die häufigste linke Version des Antizionismus stammt, so sagen ihre Protagonisten, aus einer starken Opposition gegen den Nationalismus und den Nationalstaat. Schon früh in der Geschichte der Linken war dies ein plausibles und weit gefasstes Argument, das von vielen Juden vertreten wurde. Rosa Luxemburg zum Beispiel schrieb mit gleichem Abscheu über Polen, Ukrainer, Litauer, Tschechen, Juden und »zehn neue Nationen des Kaukasus« als »verrottende Leichen, die aus hundertjäh­rigen Gräbern aufsteigen« und den »leidenschaftlichen Drang verspüren, Staaten zu bilden«. Das Einzige, was an Luxemburgs Abscheu bewundernswert bleibt, ist dessen Universalismus. Aber genau das ist das Merkmal, das bei vielen zeitgenössischen Linken fehlt.

Es gab viele Möglichkeiten, Luxemburgs Vorstellungen zu verwirklichen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachen die britischen, französischen und sowjetischen Reiche zusammen und es entstanden mehr Nationalstaaten, als es bis dahin in der gesamten Weltgeschichte gegeben hatte. Ein paar Linke träumten davon, die alten Reiche in demokratische Föderationen zu verwandeln, aber die meisten unterstützten so ziemlich alle postimperialen Schöpfungen – im sowjetischen Fall vielleicht mit weniger Begeisterung. Man denke an die verpassten Chancen, sich der Nationalstaatlichkeit zu widersetzen!

Warum zum Beispiel den vietnamesischen Nationalismus unterstützen, wenn die offensichtlich richtige ­Forderung in Hinblick auf Vietnam, Laos und Kambodscha, die drei Teile des französischen Indochina, ein multinationaler Staat gewesen waren? Warum haben die Linken nicht die Aufnahme Algeriens als Provinz Frankreichs gefordert, in der die Bürger alle von der Französischen Revolution verkündeten Rechte genießen? Der ­algerische Front de Libération Nationale (FLN), für den sich die internatio­nale Linke einsetzte, schuf stattdessen einen Nationalstaat, der es versäumt hat, diese Rechte zu verwirklichen. Ich erinnere mich, wie enthusiastisch die Linke angesichts des damaligen Burma von U Nu war, das ein Paradebeispiel dafür ist, was am Nationalismus falsch ist. Burma hätte eine Provinz Indiens werden sollen, die Buddhisten, Hindus und Muslime in einem Staat zusammenbringt, aber niemand auf der Linken setzte sich dafür ein. Die Briten beherrschten den Sudan als »anglo-ägyptischen Sudan«, und sicherlich hätten die beiden vom anglo-imperialistischen System befreiten afrikanischen Länder in einem Staat vereint werden sollen. Warum waren die Linken nicht gegen die sudanesische Befreiung? Oder gegen die Trennung Eritreas von Äthiopien? Warum haben sie nicht einen baltischen Staat anstelle des nationalistischen Dreigestirns Lettland, ­Litauen und Estland gefordert?

Man könnte viele ähnliche Fragen stellen, es gibt nur eine einzige Antwort auf alle. Der Nationalstaat war in all diesen Fällen die Wahl der Bevölkerung, die demokratische Option, auch wenn sie nicht zur Demokratie führte. So hatten die Linken recht, die Vietnamesen, die Algerier und all die anderen zu unterstützen.

Aber wieso nicht auch die Juden? Und warum trifft nun, da es einen jüdischen Staat gibt und er ganz wie alle ­anderen Staaten ist, ihn diese sonderbare Version von Luxemburgs Abscheu?