Der »Joker« wandelt an der Grenze des Erträglichen

Incel Inside

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Macht Fleck anfangs noch ein fröhliches Gesicht, wird ihm durch die öffent­liche Demütigung im Fernsehen vorgeführt, dass sein Leben als offensichtlich armes Würstchen ein einziges Trauerspiel ist. Mitten im Untergang gehen ihm die stabilisierenden Medikamente aus, und er wird, während er wieder einmal verprügelt wird, mehr oder weniger ­absichtslos zum Mörder. Damit ist die Schwelle überschritten, und er beschließt, die Sinnlosigkeit seiner Tragödie durch theatralische Gewalttätigkeit in eine skurrile Komödie oder wenigstens einen tödlichen Witz zu transformieren. Weitere Gewalt und die Verwandlung Flecks und der auf den Straßen Protestierenden in einen maskierten Mob sind die Folge.

Ein einsames Tänzchen in der öffentlichen Toilette: Reminiszenz an die Figur des verkannten Künstlers, der zur Bestie wird.

Bild:
Warner Bros. Entertainment / Niko Tavernise

Nah an seinen Vorbildern inszeniert »Joker« die gewalttätige Neuerfindung des geschundenen Protagonisten als blutdürstig mordender Mann im Sinne Klaus Theweleits. Flecks Gegenspieler, Batmans Vater Thomas Wayne, verweist in seiner Mischung aus Selbstherrlichkeit und Geschäftemacherei auf das System Trump, zumal dessen Umfeld im Kino den Aufstieg eines weiteren großen Clowns zum Diktator feiert. Der Film, der von um sich schlagenden Männern nur wimmelt, zeigt der Gesellschaft, aus der er kommt, ein zur Clownsfratze deformiertes Gesicht. Allzu einfache Schwarzweißzeichnungen versucht er dabei zu vermeiden, um das Iden­tifikationspotential gering zu halten. So gesteht er den Vertretern der abgekapselten und in die eigene Tasche wirtschaftenden Elite zu, dass sie nicht immer und automatisch im Unrecht sein müssen, was der blind­wütige Rächer auf seinem Feldzug wider besseres Wissen leugnen und bewusst verdrängen muss. Die Bös­artigkeit der Welt prägt auch die Vorstellungswelt ihrer Opponenten.

Dennoch ist die Befürchtung, dass ein emotional aufgeladenes Produkt des Mainstream-Kinos weniger der Dekonstruktion als vielmehr der Schaffung tödlicher Männerrollenbilder diene, nicht gänzlich unbegründet. Diskutiert wird vor allem in den USA, ob der Film gar eine Welle von »incel violence« auslösen könne. Als Incel bezeichnen sich unfrei­willig zölibatär lebende Männer, die Frauen die Schuld an ihrem unbefriedigenden Dasein geben und sich in Internetforen gegenseitig in Misogynie und toxischer Männlichkeit bestärken. Das FBI warnt zum Kinostart von »Joker« gar vor möglichen Amokläufen ähnlich demjenigen in Aurora 2012. Dort erschoss ein Attentäter, der sich selbst bei seiner Festnahme als Joker bezeichnete, zwölf Besucher der Premiere von »Der dunkle Ritter erhebt sich« und verletzte um die 60 weitere teils schwer. Dem Film von Phillips beschert die Debatte maximale Aufmerksamkeit, sein Erfolg an den Kinokassen gilt als  sicher. Einmal mehr stellt sich jedoch unabhängig von der künstlerischen Klasse des Produkts die Frage, wie oft die altbekannte Geschichte von der Rache ­gedemütigter Männer eigentlich noch erzählt werden muss und wie weit die Grenze des noch Erträglichen verschoben werden kann.

Joker (USA 2019), Regie: Todd Phillips, Buch: Todd Phillips, Scott Silver, Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz. Filmstart: 10. Oktober