Massenproteste In Katalonien

Das Wasser brodelt

In Katalonien gibt es nach den Urteilen gegen führende seperatistische Politikerinnen und Politiker große Proteste. Diese orientieren sich an Taktiken der Hongkonger Protestbewegung.

»Vor dem Bürohaus mit Handelsfirmen am alten Hafen von Barcelona, in dem ich arbeite, stehen derzeit fünf Mannschaftswagen der Polizei«, sagt Daniél Q. vom linken Kollektiv Kat-Info der Jungle World. »Heute morgen um halb neun bin ich auf dem Weg zur Arbeit von Polizisten mit vorgehaltenem Gewehr kontrolliert worden. Sie haben wohl meine gelbe Schleife an der Jacke gesehen und mich deshalb herausgezogen.« 

»Heute morgen um halb neun bin ich auf dem Weg zur Arbeit von Polizisten mit vorgehaltenem Gewehr kontrolliert worden.«

Die gelbe Schleife ist das Symbol des Protests gegen die juristische Verfolgung katalanischer Separatisten, unter ihnen zahlreiche Abgeordnete, Mitglieder katalanischer Regionalregierungen und Vorsitzende von Kulturvereinen. Am 1. Oktober 2017 hatte die damalige katalanische Regionalregierung unter Carles Puigdemont trotz Verbots durch die spanische Regierung und das Verfassungsgericht ein Referendum über die katalanische Unabhängigkeit abgehalten. Daraufhin wurden zehn katalanische Politiker und zwei Vorsitzende katalanischer Vereinigungen inhaftiert und vor dem Obersten Gericht in Madrid wegen Aufstands, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Ungehorsams angeklagt. Der vier Monate dauernde Prozess wurde live im Fernsehen übertragen, am Montag vergangener Woche ergingen Urteile gegen neun der zwölf Angeklagten. Sechs weitere Separatisten müssen sich vor dem Obersten Gerichtshof Kataloniens verantworten, sieben weitere sind vor der juristischen Verfolgung außer Landes geflohen und weiterhin im Exil. Die Audiencia Nacional, der Nationale Gerichtshof Spaniens, ermittelt zudem gegen vier ­Polizisten.

Der ehemalige stellvertretende katalanische Präsident, Oriol Junqueras, wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt, seine Kabinettsmitglieder Raül Romeva, Jordi Turull und Dolors Bassa zu jeweils zwölf Jahren. Die frühere Parlamentspräsidentin Carme Forcadell bekam neun Jahren Haft, weil sie eine Debatte des katalanischen Regionalparlaments über die Erklärung der Unabhängigkeit von Spanien trotz des Verbots der spanischen Regierung zugelassen hatte. Die restlichen vier Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen neun und elfeinhalb Jahren.

Vor dem Urteilsspruch ließ Innenminister Fernando Grande-Marlaska (PSOE) etwa 2 000 Angehörige der Nationalpolizei und der ­paramilitärischen Guardia Civil nach Barcelona verlegen. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung begannen Proteste unter dem Motto »Demokratischer Tsunami«, die sich an den Taktiken der Hongkonger Protestbewegung orientieren: Wie Wasser sollen die Protestierenden an die Versammlungsorte sickern und dabei die Polizei umfließen. Wie in Hongkong werden soziale Medien wie Twitter genutzt. Über den Messenger-Dienst Telegram verschickten Protestierende am Montag falsche Flugtickets. So gelangten Demonstrierende durch die Polizeisperren in den Flughafen von Barcelona und legten die Check-in-Schalter lahm.

 

Außer dem Flughafen blockierten Protestierende auch Autobahnen, Bahnhöfe und zentrale Straßen in Barcelona, obwohl die Polizei auf Protestierende einschlug und Gummigeschosse einsetzte. »Wir ergreifen die Initiative, unsere Werkzeuge sind Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam«, heißt es auf der Website tsunamidemocratic.cat. In Spanien wurde die Seite gesperrt. Kopfzerbrechen bereitet der Polizei die zugehörige App. Diese lässt sich zwar auf der Website herunterladen, funktioniert aber nur über einen QR-Code, der unter der Hand weitergegeben wird. Um die App zu aktivieren, ist eine Empfehlung durch andere User nötig. Jeden Tag kommt es zu Blockaden an unerwarteten Orten.

Nacht für Nacht brennen zudem Barrikaden. Große rollbare Müllcontainer aus Plastik werden dazu in Barcelona auf Straßenkreuzungen geschoben und angezündet. Die Polizei redet von straff organisierten militanten Gruppen, doch es sieht eher so aus, als seien viele Menschen einfach wütend wegen der ungerechten Urteile, der Kontrollen und Gewalt seitens der Polizei sowie der Gegendemonstrationen spanischer Neonazis, die unter den Augen der Polizei den Hitlergruß zeigen und Naziparolen brüllen.

Die staatliche Repression lässt die Sympathie für den katalanischen Separatismus wachsen. Am 26. Oktober soll es in Barcelona eine Großdemonstration gegen die Urteile geben. Bereits beim Abschluss der dreitägigen »Sternmärsche der Freiheit« am Freitag vergangener Woche, zu dem über eine halbe Million Menschen kamen, nahmen neben Unabhängigkeitsbefürwortern auch viele teil, die empört sind über die Verletzung demokratischer Rechte. In einer Woche gab es über 750 Festnahmen, von über 600 zivilen und 288 uniformierten Verletzten ist die Rede.

Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) reiste am Montag nach Barcelona, um im Hospital Sant Pau verletzte Po­lizisten zu besuchen. Das Krankenhauspersonal buhte ihn aus, als er das Gebäude verließ, ohne dort ebenfalls behandelte verletzte Demonstrierende zu besuchen, darunter eine 16jäh­rige, die mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma liegt. Dem katalanischen Regionalpräsidenten Quim Torra warf Sánchez vor, die Polizei im Stich gelassen zu haben, obwohl es dessen Aufgabe sei, in Katalonien für ­öffentliche Sicherheit zu sorgen. Torra wiederum wirft Sánchez vor, einen ­Dialog abzulehnen. Er sei bei seinen Versuchen, mit dem Ministerpräsidenten zu sprechen, mehrmals abgewiesen worden.