Massenproteste in Chile

30 Pesos für 30 Jahre

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Die Menschen sind empört und verärgert, nicht nur wegen der Vergangenheit, sondern auch weil viele sich vom Wirtschaftsmodell und dem poli­tischen Wandel nach dem Ende der Diktatur versprachen, dass die kapitalistische Ordnung nun für alle von Nutzen sein würde. Mit den Jahren nahm die Frustration zu, das Marktmodell schien so ungerecht wie irreversibel. Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge wurden zur Ware. Die soziale Ungleichheit ist skandalös, Ausdruck einer Klassengesellschaft, deren Profiteure gegenüber den Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit gleichgültig sind und in der diejenigen, die die ökonomische und politische Macht in ihren Händen konzentrieren, sich der Straflosigkeit sicher sein können.

Chile hat mehrere Tage intensiver und massenhafter Proteste hinter sich. Die Menschen drängen auf strukturelle Veränderungen, die mit der Verfassung von Pinochet, mit der Konzentration der Macht, mit wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ungleichheit Schluss machen sollen. »Wir brauchen eine Veränderung, die beinhaltet, dass sich alle nach ihrer Verantwortung für den Aufbau einer besseren Gesellschaft fragen«, sagt Juan Pedro, ein ­Einwohner von Villa Francia. »Die Regierung hat sich entschieden, den Menschen entgegenzukommen, und Veränderungen angekündigt, die aber nur Stückwerk sind. Sie hat nicht die Absicht, auf die Forderungen der Menschen einzugehen. Wir müssen weiterkämpfen.«

Mittlerweile diskreditieren die Regierung und die Politiker die Proteste nicht mehr, sondern behaupten, dass deren Botschaft verstanden worden sei und die Veränderungen bereits begonnen hätten. Die Soldaten wurden zurück in die Kasernen beordert. Piñera erklärte, unterstützt von unkritischen Medien, dass die Normalität im Land wiederhergestellt sei und dass er für einen »neuen Sozialpakt« zur Verfügung stehe. Die Regierung hat verschiedene Maßnahmen angekündigt, darunter die Anhebung des Mindestlohns und der Mindestrente, das Einfrieren der Strompreise, die Senkung von Arzneimittelpreisen und höhere Steuern für Spitzenverdiener. Am Montag tauschte Piñera acht seiner Minis­terinnen und Minister aus, darunter Innenminister Andrés Chadwick. Für die staatliche Gewaltanwendung, die für einige der 20 Toten und für Tausende Verletzte verantwortlich ist, übernahm Piñera sonst keine politische Verantwortung. Hoffnung auf die strukturellen Veränderungen, die die Menschen fordern, gibt es nicht, sofern Proteste und ziviler Ungehorsam nicht andauern. Die aber sollen diese Woche auf der Straße weitergehen.