Vom Verschwinden linker Militanz

Ungehorsam statt militant

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Dass ziviler Ungehorsam derzeit so beliebt ist, hängt auch mit einer Krise linksradikaler Militanz zusammen. Bis auf Ausnahmeerscheinungen wie den G20-Gipfel in Hamburg 2017 und Zusammenstöße in militanten Soziotopen wie der Rigaer Straße in Berlin und im Hambacher Forst ist die Zahl der direkten Konfrontationen mit der Polizei in den vergangenen Jahren merklich zurückgegangen. 

Die Aufrüstung der Polizeibehörden ist ein Grund für diesen Rückgang. Beweissicherungseinheiten mit hochauflösenden Kameras stehen bei potentiell konfrontativen Anlässen heutzutage an jeder Straßenecke. Wer einen Stein wirft, muss damit rechnen, gefilmt und früher oder später festgenommen zu werden. Auch fallen Strafen oftmals höher aus als noch vor wenigen Jahren. Eine Rangelei mit Polizisten kann heutzutage härtere Konsequenzen haben, denn seit 2017 gibt es den Straftatbestand des tätlichen ­Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, der mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Aktionen des zivilen Ungehorsams bergen da ein ­geringeres Risiko. 

Maßgeblich für den Erfolg des zivilen Ungehorsams dürfte aber dessen leichte Praktizierbarkeit sein. Sich vor einen Naziaufmarsch oder ein Kohlekraftwerk zu setzen, ist fast jedem möglich. Es bedarf weder einer großen inneren Überwindung noch besonderer Fähigkeiten. Und weil sich die Prinzipien unabhängig vom konkreten Ziel der Aktionen ähneln, ist es für viele Menschen leicht, sich an ihnen zu beteiligen. Der erfahrene Kohlegegner weiß, was auf ihn zukommt, wenn er sich vor eine Nazidemonstration auf die Straße setzt, die Antifaschistin kann wiederum erahnen, was passieren wird, wenn sie mit »Ende Gelände« in eine Kohlegrube geht. Nicht zu vernachlässigen ist wohl auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit bei solchen Aktionen. Ein Kohlebagger, der anhält, weil Menschen in der Grube sind, ist ein Erfolg, den die Beteiligten sofort sehen können.