Im Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann sagten Überlebende aus

Wegschauen und umarmen

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Während es zwischen Dunin-Wasowicz und dem Angeklagten keinen Austausch und wohl auch keinen Blickkontakt gab, gestaltete sich die Begegnung zwischen D. und dem 76jährigen Moshe Peter Loth aus den USA am Dienstag voriger Woche anders. Der Sohn einer deutschen Jüdin wurde in Gefangenschaft geboren und kurze Zeit später mit seiner Mutter nach Stutthof gebracht. Nach der Befreiung wurde er ohne seine Mutter völlig unterernährt auf einem Bürotisch gefunden. Später sei er von einer polnischen Frau aufgezogen worden und habe nur polnisch gesprochen. »Ich wusste lange nicht, wer ich war«, sagte Loth.

Nachdem er seine Aussage als Zeuge und Nebenkläger beendet hatte, ging er auf den Angeklagten zu. Zuvor hatte er D. gefragt, ob er sich ihm nähern dürfe, und ihn gebeten, ihm in die Augen zu schauen. An die Zuschauer gewandt sagte Loth: »Passen Sie alle auf! Ich werde ihm vergeben.« Die Ehefrau und die Enkelin des Angeklagten hielten sich fest und weinten. Dann umarmten sich die beiden Männer. »Jetzt bin ich frei«, sagte Loth, als er zu seinem Platz zurückging. »Ich mache das für mich, dadurch befreie ich mich selbst.«

Meier-Göring war ebenso beeindruckt wie die wenigen zu dem Prozess zugelassenen Zuschauer. »Können Sie auch denen vergeben, die keine Schuld empfinden?«, fragte die Richterin den Nebenkläger. Sie hatte Loth zuvor ermuntert, Fragen an den Angeklagten zu richten, da er als Nebenkläger das Recht dazu habe. Loth befragte D. sachlich und manchmal detailliert über dessen Zeit im Lager Stutthof. Er erhielt einige Antworten: Wer D.s Vorgesetzter war, was für eine Waffe er auf dem Wachturm benutzte – kein Maschinengewehr, sondern einen Karabiner 98K –, und wie er von Stutthof weggekommen sei, nämlich mit einem Kahn, der von Schleppern über die Ostsee bis nach Neustadt in Holstein gefahren worden sei. »Haben Sie Gefangene mitgenommen?«, fragte Loth. »Ja, aber es waren keine Juden, auf keinen Fall!«, antwortete D. »Woher wissen Sie das?«, wollte die Richterin wissen. D. wiederholt mit fester Stimme: »Das waren keine Juden.« Ja, natürlich, er bedaure alles, was damals passiert sei, antwortet D. auf Nachfrage Loths. Er sei nicht freiwillig in Stutthof gewesen und habe keine Möglichkeit gehabt, etwas gegen das Leid der Häftlinge zu tun.

Kommenden Monat soll ein Überlebender aus Israel als Zeuge befragt werden. Rund zwei Stunden dauert ein Prozesstermin. Seit Oktober wurde an acht Tagen verhandelt. Bis Februar kommenden Jahres sind 13 weitere Verhandlungstage vorgesehen.