Ein Gespräch mit dem Historiker Michael Brenner über Antisemitismus in München nach 1918

»Die Trotzkis machen die Revolution und die Bronsteins zahlen den Preis«

1919 wurde in München die sozialistische Räterepublik ausgerufen, bereits kurze Zeit nach ihrer Zerschlagung aber galt Bayern als nationalistische »Ordnungszelle« und Hochburg der Nationalsozialisten. Der Historiker Michael Brenner schildert in seinem Buch »Der lange Schatten der Revolution« die Situation der Juden und die Angriffe der Antisemiten in München zwischen 1918 und 1923.
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Anlässlich des 100jährigen Jubiläums der revolutionären Ereignisse von 1919 erschienen zahlreiche Bücher zum Thema. Wodurch zeichnet sich Ihre Herangehensweise aus?

Mit den jüdischen Revolutionären in München 1918/19 beschäftige ich mich seit 30 Jahren. Als zum 100jährigen Jubiläum der Revolution zahlreiche Bücher erschienen, merkte ich, dass dieses Thema jedoch weiterhin unbehandelt blieb. Es ist nicht schwer verständlich, warum die Historikerzunft das Thema meistens – im wörtlichen Sinne – links liegen ließ. Juden als linke Revolutionäre, das ist ja ein Lieblingsthema aller Antisemiten. Ich meine aber: Denen sollte man es nicht überlassen. Immerhin war Kurt Eisner der erste jüdische Ministerpräsident eines deutschen Staates. Immerhin waren mit Gustav Landauer, Ernst Toller und Erich Mühsam wichtige Intellektuelle und Schriftsteller, die nun einmal alle aus jüdischen Familien kamen, führend an den Geschehnissen in München beteiligt. Und dass sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft erheblicher Widerstand gegen die jüdischen Revolutionäre formierte, ist ein ebenfalls vergessener Aspekt.

Wie beurteilen Sie die bisherigen Publikationen zum Thema?

Die meisten ernsthaften Studien beschäftigen sich gar nicht oder nur am Rande mit den Fragen der jüdischen Herkunft der Protagonisten. Diese setzten sich allerdings durchaus mit ihrer eigenen Herkunft auseinander, und zwar auf unterschied­liche Weise. So schrieb Gustav Landauer selbst viel über jüdische Kultur, ostjüdische Einwanderer und Zionismus und war ein enger Freund des jüdischen Philosophen Martin Buber. Kurt Eisners wichtigster intellektueller Einfluss war Hermann Cohen, einer der wichtigsten Vertreter der jüdischen Philosophie im 20. Jahrhundert.

»Das große Problem der Münchner Juden war, dass sie den Angriffen nach der Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 ziemlich wehrlos ausgesetzt waren.«

In Ernst Tollers literarischem Werk spielt die jüdische Herkunft seiner Protagonisten eine wichtige Rolle. Und Erich Mühsam reagierte sehr entschieden auf die Distanzierung eines Münchner orthodoxen Juden, der behauptete, die Revolutionäre seien gar keine Juden mehr. Mühsam entgegnete ihm aus dem Gefängnis: Sein Judentum berufe sich auf die Prophetenlehre und sei in Bezug auf soziale Gerechtigkeit mindestens so authentisch wie das Judentum seiner kapitalistischen Glaubensgenossen.

War die Ablehnung der Revolutionäre eine Mehrheitsmeinung unter den Münchener Jüdinnen und Juden?

Juden sprachen niemals mit einer Stimme, und so war es auch in München 1918/19. Es gab natürlich einige jüdische Anhänger der Revolution. Die meisten Münchner Juden waren allerdings auch während der Repu­blik noch Anhänger der Monarchie oder zumindest der Parteien der Mitte und der Mehrheitssozialdemokratie. Ich würde sogar sagen, dass außer den Antisemiten wohl niemand die Revolution, vor allem aber die ­beiden Räterepubliken, so sehr ablehnte und fürchtete wie die Münch­ner Juden. Aus Moskau kannte man das Wort: »Die Trotzkis machen die Revolution und die Bronsteins (Trotzkis Geburtsname, Anm. d. Red.) zahlen den Preis.« In München machten die Eisners und Tollers die Revolution, und die alteingesessenen jüdischen Familien Münchens wie die Fraenkels und Feuchtwangers fürchteten, bei einem Scheitern der Revolution würden sie den Preis zahlen.

Auf welche Weise wurde diese Befürchtungen geäußert?

Ein Beispiel: Der Vorsitzende der orthodoxen Synagogengemeinde Ohel Jakob, Kommerzienrat Siegmund Fraenkel, veröffentlichte in den Münch­ner Neuesten Nachrichten einen offenen Brief, in dem er sich von den Revolutionären distanzierte und schrieb, das Auftreten dieser Revolutionäre erzeuge nur neuen Antisemitismus, daher »ruft das bodenständige bayerische Judentum durch mich heute Bayerns Bevölkerung zu: Unsere Hände sind rein von den Greueln des Chaos und von dem Jammer und Leid, das ihre Politik über Bayerns zukünftige Entwicklung heraufbeschwören muss.« Bei den ­Zionisten gab es sehr unterschiedliche Meinungen, die von Respekt für ­Eisner bis zur völligen Ablehnung der Beteiligung von Juden an der deutschen Politik reichten.

Wie blickte die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft auf Kurt Eisner und seine Mitstreiter?

Die zeitgenössischen Dokumente zeigen, dass diese, ob sie das wollten oder nicht, sofort und überall als Juden wahrgenommen wurden. Nicht nur von der expandierenden rechtsextremen, sondern auch von der katholischen Presse, vom Erzbischof, vom vatikanischen Nuntius, von den Tagebuchschreibern der Zeit und sogar selbst von ihren nichtjüdischen Mitstreitern. Die Juden hatten in Deutschland zwar seit 1871 theoretisch gleiche Rechte, doch gab es vor 1918 im Deutschen Reich, anders als etwa in Italien oder Frankreich, eben keine jüdischen Minister und erst recht keine jüdischen Ministerpräsidenten. Für viele war dies weiterhin unvorstellbar – und auch inakzeptabel. Dies zeigen unter anderem zwei riesige Ordner mit anonymen antisemitischen Zuschriften an Eisner, die sich in seinem Nachlass befinden und alle Niederträchtigkeiten bis hin zur Aufforderung zum Mord an ihm sowie der Vertreibung aller Juden enthalten.

Wie wurde in der Stadt München mit diesem Antisemitismus umgegangen?

Das große Problem der Münchner Juden war, dass sie den Angriffen nach der Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 ziemlich wehrlos ausgesetzt waren. Der Münchner Rabbiner Baerwald, selbst ein überzeugter Monarchist, begab sich beispiels­weise einige Male zum Erzbischof und späteren Kardinal Michael Faulhaber, um dessen Hilfe gegen den Antisemitismus zu erbitten. Aus den mittlerweile veröffentlichten Tagebüchern Faulhabers wissen wir, warum er öffentlich nicht gegen den Antisemitismus einschritt: Er selbst war der Meinung, die Juden seien ohnehin einflussreich und könnten sich schließlich selbst helfen.

Gab es Beistand aus den Reihen der Polizei und Justiz?

Nein. Hier war es sogar noch schlimmer. Als Polizeichef von München fungierte mit Ernst Pöhner bereits seit 1919 einer der frühen Nationalsozialisten. 1923 sollte er sich auch aktiv am Hitlerputsch beteiligen. Leiter der Politischen Abteilung der Münchner Polizei war Hitlers Reichsinnenminister ab 1933, Wilhelm Frick. Dass die Justiz auf dem rechten Auge blind war, zeigte sich nicht erst beim Hitler-Prozess wegen des Putschversuchs. Derselbe Richter, der Hitlers milde Strafe aussprach, feierte auch den Eisner-Attentäter Graf Arco als nationalen Helden. Auch auf den Schutz der Regierung konnte man sich nicht verlassen.

Inwiefern?

Mit Gustav von Kahr war ab 1920, nach der Zerschlagung der Räterepublik, ein Politiker Ministerpräsident – und ab 1923 Generalstaatskommissar –, dessen Antisemitismus sich unter anderem darin ausdrückte, dass er jeweils sofort nach seinem Amtsantritt versuchte, systematische Ausweisungen von Juden osteuropäischer Herkunft vorzunehmen. Aus Kahrs bisher unveröffentlichten Memoiren geht klar hervor, dass er schon als Kind antisemitisches Gedankengut eingeimpft bekam. Auf der Seite der politischen Linken war der Antisemitismus übrigens eher vereinzelt vorhanden. Insgesamt waren die Sozialdemokraten die einzige große Partei, die versuchte, die Rechte der Juden zu verteidigen und den Antisemitismus zu bekämpfen. Bei den Kommunisten war es komplizierter, da auch hier zahlreiche Ressentiments von den Juden als Kapitalisten kursierten und man mit dem Judentum als Religionsgemeinschaft Probleme hatte.

München wurde in dieser Zeit zur Hauptstadt des Antisemitismus in Deutschland, den Nationalsozialisten galt sie alsbald als »Hauptstadt der Bewegung«. Wie konnte das geschehen?

Das lag an der Kombination der oben genannten Faktoren. Vor allem die Anwesenheit zahlreicher später führender Nationalsozialisten wie Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Rudolf Hess und Hermann Göring war hier von enormer Bedeutung. Der Münchner Beobachter wurde in dieser Zeit zum Völkischen Beobachter, und die Ideen Hitlers fanden Widerhall in Teilen des Münchner Bürgertums, in einflussreichen Familien wie den Hanfstängls, Bruckmanns und Bechsteins. Das Klima in München war bereits 1920 so sehr vergiftet, dass Juden auf der Straße tätlich angegriffen und Synagogen beschmiert wurden. Bis 1923 hatte der Antisemitismus sich so sehr verbreitet, dass die Verfilmung eines deutschen Klassikers, Lessings »Nathan der Weise«, die in Berliner Kinos erfolgreich angelaufen war, aufgrund der Drohungen der NSDAP in Münchner Kinos nicht gezeigt werden konnte.

Welche Reaktionen gab es auf diese Bedrohungslage?

Kurt Tucholsky rief die Juden dazu auf, Bayern als Reiseziel zu meiden, und wenig später trat der Chemie-Nobelpreisträger Richard Willstätter wegen der antisemitischen Berufungspolitik der Ludwig-Maximilians-Universität von seinem Lehrstuhl zurück. Bereits im Juni 1923 nannte Thomas Mann München »die Stadt Hitlers«. Und als am 8. November Hitler und Ludendorff versuchten, sich an die Macht zu putschen, kam es zu pogromartigen Szenen, die aus heutiger Sicht an das Novemberpogrom von 1938 erinnern. Schon vor 1933 verließen viele Juden München und Bayern.

Viele Intellektuelle, Juden wie Nichtjuden, darunter Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, gingen nach Berlin. Feuchtwanger, selbst Sohn einer Münchner jüdischen Familie, beschrieb dies alles eindrucksvoll in seinem 1930 veröffentlichten Roman »Erfolg«, in dem es heißt: »Früher hatte die schöne, behagliche Stadt die besten Köpfe des Reichs angezogen. Wie kam es, dass die jetzt fort waren, daß an ihrer Stelle alles, was faul und schlecht war im Reich und sich anderswo nicht halten konnte, magisch angezogen nach München flüchtete?« Die Antwort auf diese Frage versuche ich in meinem Buch zu geben.

Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution – Juden und Antisemiten in ­Hitlers München 1918 bis 1923. Suhrkamp, Berlin 2019, 400 Seiten, 28 Euro