Erdoğan beschwört für die türkische Intervention in Libyen die osmanische Geschichte

Erdogans neoosmanische Politik

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan interveniert mit türkischen Soldaten und syrischen Söldnern in Libyen. Zur Legitimation beruft er sich auf das Osmanische Reich.

Der Staatspräsident hat den Blick gesenkt, die Hände hält er vor sich, die Handflächen nach oben wie beim islamischen Gebet. Aus den Gesichtszügen liest man tiefe Ergriffenheit. Seine ­Minister tun es ihm nach, so gut sie können. An Erdoğans Seite spricht der Leiter der staatlichen Religionsbehörde, Ali Erbaş, in ein Mikrophon. Die Feier hat wahrlich etwas Religiöses, aber es geht nicht darum, Abschied von ge­fallenen Soldaten zu nehmen oder eine Moschee einzuweihen; es geht um die Eröffnung der neuen Zentrale des türkischen Geheimdienstes MİT.

In Syrien und Libyen entsteht
eine von Erdoğan abhängige islamistische Söldnerarmee.

Staatlichen Institutionen haben in der Türkei schon andere religiösen Weihen verliehen, doch nicht so, wie Recep Tayyip Erdoğan es tut. Der von Erdoğan häufig bestrittene Hang zum Neoosmanismus tritt in diesen Tagen deutlich zum Vorschein. Das hat auch etwas mit seinen Plänen in Libyen zu tun. Erdoğan lobte in seiner Eröffnungsrede den Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) für die Förderung des Geheimdiensts. Das Lob ist, salopp gesagt, ein Schlag ins Gesicht der modernen ­Türkei. Abdülhamid II. trat seine Regierung als liberaler Reformer an, betrieb aber bald eine autoritäre, konservative Politik. Er herrschte mit Geheimdienst, Zensur und religiösem Fanatismus. Zahlreiche Massaker an der armenischen Minderheit fallen in seine Regierungszeit. Seine politischen Erfolge hin­gegen waren sehr begrenzt, die Jungtürken setzten ihn im Jahr 1909 ab. Der Verlust Libyens 1912 und schließlich der gänzliche Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 kamen kurz nach dem Ende seiner Herrschaft. Und damit ergibt Erdoğans Rede doch noch Sinn. Wenn die Türkei Auf­gaben wie den Kampf um Libyen bestehen will, dann muss sie sich an den ­autoritären Abülhamid II. halten. Und in einem gewissen Sinn sind Erdoğan und der Sultan auch Brüder im Geiste.

Mitte vergangener Woche traf der russische Präsident Wladimir Putin in Istanbul ein, nachdem er sich vorher noch überraschend mit Erdoğans Erzfeind, dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, getroffen hatte. Putin war eigentlich nicht gekommen, um über Libyen zu reden. Es ging um die Eröffnung einer Gaspipeline im Schwarzen Meer. Doch für Erdoğan war es ein Erfolg, dass er und Putin gemeinsam zu einem Waffenstillstand in Libyen aufriefen. De facto hat Putin ihn damit als Akteur in Libyen anerkannt, auch wenn beide unterschiedliche ­Seiten im libyschen Konflikt unterstützen: Die Türkei stützt die von den UN anerkannte »Einheitsregierung« des Ministerpräsident Fayez al-Sarraj, Russland hingegen den Marschall Khalifa Haftar, der seit April vorigen Jahres versucht, die Hauptstadt Tri­polis einzunehmen. Doch Haftar bleibt in einer starken Position. Abgesehen von der Öl- und Gasförderung vor der Küste kontrolliert er alle Ölfelder des Landes und fast alle Ölhäfen. Die Türkei musste abermals Putin einschalten, um Haftar den Waffenstillstand schmackhaft zu machen. Es ist fraglich, ob er längere Zeit hält. Erdoğan kann in der Zwischenzeit der Regierung in Tripolis militärische Hilfe schicken, aber anders als in Syrien, das über 800 Kilometer Grenze zur Türkei hat, ist die Geographie diesmal nicht auf Erdoğans Seite.

Dass die türkische Armee den kurdischen Milizen in Syrien so überlegen ist, beruht wesentlich auf dem Einsatz der Luftwaffe. Doch nach Libyen könnte die Türkei nur ihre etwas veralteten F-16-Flugzeuge schicken. Eine Stationierung in Libyen ist zu gefährlich und es fehlt auch die Infrastruktur dafür. Deshalb reiste Erdoğan im Dezember Hals über Kopf mit Generälen und ­Geheimdienstlern nach Tunis, um Flugzeugstationierungen zu erwirken. Doch der tunesische Präsident Kais ­Saied und selbst der Führer der Erdo­ğan zugetanen islamistischen Partei ­al-Nahda, Rachid Ghannouchi, winkten unmissverständlich ab. Für Tunesien mit seiner langen Grenze zu Libyen und seiner Abhängigkeit vom Tourismus wäre eine Verstrickung in den libyschen Krieg eine Katastrophe. Auch Algerien lehnte den Wunsch der Türkei ab.

Von der Türkei aus müssten F-16-Flug­zeuge mehrfach in der Luft aufgetankt werden, um Libyen zu erreichen. Das macht den Einsatz teuer und unflexibel. Der Weg von der Türkei nach Westlibyen wäre komfortabler, könnten die türkischen Jets quer über die griechischen Inseln in der Ägäis fliegen. Doch die türkische Regierung müsste dazu zumindest den Streit mit Griechenland über die Lufthoheit in der Ägäis beenden. Einfach durchzufliegen, bedeu­tete Drängeleien mit griechischen Maschinen, was den Einsatz erschweren würde. Ohnehin ist die F-16 besser für den Luftkampf als für die Bekämpfung von Bodenzielen geeignet. Haftar könnte eventuell sogar Jets abschießen. Erdoğan hat mittlerweile erklärt, es würden 35 türkische Soldaten, darunter ein Generalleutnant, nach Libyen geschickt, aber keine türkischen Kampftruppen. Er will sich offenbar auf syrische Söldner stützen.

Berichten des Syrian Observatory for Human Rights und anderen Quellen zufolge sollen bereits etwa 1 000 syrische Kämpfer nach Libyen gekommen sein. 1 700 weitere Rekruten würden in Lagern in Syrien trainiert. Ihnen sollen je nach Quelle zwischen 1 500 und 2 500 US-Dollar im Monat für drei bis sechs Monate Einsatz angeboten worden sein und außerdem die türkische Staatsbürgerschaft. Das ist ein attrak­tives Angebot, denn die Türkei soll ihren Söldnern in Syrien nur 50 Dollar im Monat zahlen.

Während Erdoğan syrische Rebellen nach Libyen schickt, hat die syrische Luftwaffe über dem Rebellengebiet von Idlib Flugblätter abgeworfen, in denen die Bevölkerung aufgefordert wird, über drei Korridore in das Regierungsgebiet zu kommen. Zugleich wurden die Angriffe verstärkt. Unmittelbar nach Putins Besuch am 7. Januar in Damaskus bereitete Assad offenbar die Schluss­offensive gegen Idlib vor, während man in der Türkei Putin so verstanden haben wollte, dass nun ein neuer Waffenstillstand auch in Syrien beginne. Einen Krieg im fernen Libyen zu beginnen, während nebenan in Syrien brennt, kommt für Erdoğan ungelegen. In der Türkei meinen viele, Erdoğan wolle mit großen Projekten wie der Intervention in Libyen von inneren Problemen ablenken. Gut 13 Prozent Arbeitslosigkeit und die Versuche ehemaliger Weggefährten aus der AKP, neue Parteien zu gründen, machen dem Präsidenten zu schaffen.

Doch was immer Erdoğans Motive sein mögen, die Implikationen seiner Politik sind weitreichend. Der Bezug auf die Osmanen geht einher mit einer ständigen Propaganda gegen die nach dem Ersten Weltkrieg etablierte internationale Ordnung. Im September ließ sich Erdoğan vor einer Karte fotografieren, in der die halbe Ägäis mit all ihren griechischen Inseln als zum »blauen Vaterland« der Türkei gehörig eingezeichnet war. Im November schloss er mit der auf seine militärische Unterstützung angewiesenen Regierung in Tripolis einen Vertrag, der beinhaltet, dass sich die exklusiven Wirtschaftszonen der beiden Länder in der Mitte des Mittelmeers treffen. Dass dort auch Kreta und Rhodos liegen, wurde ignoriert. Außer um Bodenschätze und Pipelines im Mittelmeer geht es der türkischen Regierung mittelfristig auch um Territorialansprüche zum Beispiel in Syrien. Nebenbei entsteht in Syrien und Libyen und von Erdoğan abhängige ­islamistische Söldnerarmee.

Erdoğan operiert in Syrien und Libyen an den Grenzen seiner Möglichkeiten. Das birgt die Gefahr, dass Putin ihn übervorteilt, der ihn in Syrien schon gegen die USA ausspielte. Zumindest hat Erdoğan sich durch seine Libyen-Politik in seinem Verhältniss zur EU auf­gewertet. Nicht zuletzt hat er potentiell Einfluss auf eine weitere Flüchtlingsroute nach Europa, die seine Druckmittel gegenüber der EU erweitern könnten.