Die Fotos aus Sobibor, die den Alltag der SS im Vernichtungslager zeigen

Ansichten einer Karriere

Neu aufgetauchte Fotos aus dem Vernichtungslager Sobibor dokumentieren die Rolle des Lagerkommandanten Johann Niemann und den Stellenwert der »Aktion Reinhardt« in der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. Die Bilder zeigen auch, wie bei Musik und Alkohol gemordet wurde.

»Niemann löste den Gürtel und zog die Uniformjacke aus. Den Revolver noch im Holster legte er den Gürtel auf den Tisch«, schreibt der niederländische Shoah-Überlebende Jules Schelvis in seinem Buch »Vernichtungslager Sobibór« über den Beginn des jüdischen Aufstands am 14. Oktober 1943, der mit der Ausschaltung des stellvertretenden Lagerkommandanten Johann Niemann seinen Anfang nahm. »In diesem Moment stürzte sich Sjubajew mit dem Beil auf ihn. Mit einem gewaltigen Hieb landete es auf Niemanns Kopf.«

300 Häftlingen gelang anschließend die Flucht aus Sobibor, etwa 60 von ihnen überlebten den Krieg; Niemann und elf weitere getötete Deutsche wurden auf einem Friedhof im polnischen Chełm bestattet. 14 Fotos dokumentieren die Trauerfeier, sie sind Teil einer erst kürzlich auf dem Dachboden von Niemanns Enkel Lothar Kudlasik entdeckten Sammlung von insgesamt 361 Fotografien, die nun mit dem Buch »Fotos aus Sobibor« wissenschaftlich aufbereitet vom Bildungswerk Stanisław Hantz und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

Bisher waren lediglich zwei Fotografien aus Sobibor bekannt. Den Tätern war daran gelegen, der vorrückenden Roten Armee möglichst wenig Spuren der Vernichtungsmaschinerie zu hinterlassen; Fotos, Dokumente und Gebäude wurden zerstört, Zeugen ermordet. Daher sind die nun aufgetauchten Dokumente für die Wissenschaft eine Sensation, nicht zuletzt zwei Fotografien, auf denen mutmaßlich John Demjanjuk in Sobibor zu erkennen ist. Demjanjuk, 2011 in Deutschland wegen Beihilfe zum Mord in über 20 000 Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, hatte bis zu seinem Tod 2012 behauptet, niemals in Sobibor gewesen zu sein. Andere Fotos, die Niemanns Witwe nach dessen Tod 1943 übergeben wurden, geben Aufschluss über bislang unbekannte Details der »Aktion Reinhardt«. So lassen sich beispielsweise unterschiedliche Bauphasen des Lagers Sobibor nachvollziehen. Bis heute, so die Herausgeber im Vorwort des Bandes, seien die drei Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« – Belzec, Sobibor, Treblinka – in der Öffentlichkeit weniger bekannt, obwohl dort »mehr als ein Viertel ­aller jüdischen Opfer der Shoah ermordet« wurde. Auch die Namen der beteiligten Täter seien außerhalb der Wissenschaft kaum bekannt, auch der Johann Niemanns, obwohl dieser im »Dritten Reich« eine steile Karriere machte und bei der »Aktion Reinhardt« am Tod von Hunderttausenden beteiligt war. Als »Aktion Reinhardt« bezeichneten die Nationalsozialisten – in Erinnerung an den von Prager Widerstandskämpfern getöteten Holocaust-Organisators Reinhard Heydrich – die systematische Ermordung der Juden und Roma des Generalgouvernements im deutsch besetzten Polen, der zwischen März 1942 und November 1943 zirka 1,8 Millionen Juden und 50 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen. Die Fotos, die vermutlich großteils nicht von Niemann selbst aufgenommen wurden, dokumentieren Stationen seiner Karriere und zeigen den Alltag der Täter im KZ, musizierende SS-Männer, Spaziergänge im Schnee und auch eine Urlaubsreise nach Berlin. Die Fotos bilden die Karriere eines überzeugten Nationalsozialisten ab, und zwar auf die Art und Weise, wie er wahrgenommen werden wollte. »Seine Abzüge hat Niemann offensichtlich zu einem sorgsam komponierten Narrativ zusammengefügt«, schreibt Martin Cüppers, wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg und Koordinator des Buchprojekts. ­In diesem Album fehlt darüberhinaus die Selbstzensur, die viele Zeugnisse der Tätergeneration nach 1945 erfuhren, weswegen die Sammlung tatsächlich als die »mit Abstand umfangreichste visuelle Überlieferung eines direkt an diesem Bereich der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik beteiligten Täters« (Cüppers) angesehen werden kann. Zu dem Fund gehören auch einige Dokumente, etwa ein Sparbuch, das zeigt, dass sich Niemann auch persönlich durch den Tod der Juden in Sobibor bereichert hat. Mit Beginn seiner Zeit im Vernichtungslager sind regelmäßig hohe Bargeldeinzahlungen verzeichnet.

Der 1913 geborene Niemann war zwar ein überzeugter Nationalsozialist, der 1931 als 18jähiger in die ­NSDAP eintrat, sein Aufstieg vom gelernten Maler zu einer Schlüsselfigur in der deutschen Vernichtungsmaschinerie war jedoch nicht vorauszusehen. Das SA-Mitglied wurde 1934 zunächst Wachmann im KZ Esterwegen, wo neben politischen Gegnern auch Juden inhaftiert waren. Im Jahr seines Todes 1943 notierte Niemann rückblickend: »Obwohl der Zivilberuf nach abgelegter Gesellenprüfung mir eine verheißungsvolle Zukunft versprach, hatte ich den Wunsch, aktiver Soldat zu werden. Dieser ging in Erfüllung durch meine Einstellung in das Justizlager Esterwegen.« Das KZ Esterwegen war nur der Beginn seiner Karriere, im selben Jahr wurde er Mitglied des SS-Sturmbanns »Ostfriesland« und war 1936 am Aufbau des KZ Sachsenhausen beteiligt, wo er 1938 in den Kommandanturstab aufstieg. Ein Jahr später, im November 1939, bestellte ihn aufgrund seiner Erfahrungen in mehreren KZ die »Kanzlei des Führers« nach Berlin, die ihn über seine zukünftigen Aufgaben im »Euthanasie«-Programm, der sogenannten »Aktion T4«, informierte.

»Mit der Unterzeichnung der Geheimhaltungsverpflichtung legte Niemann auch die SS-Uniform ab. Er war nun nicht mehr nach außen sichtbar Angehöriger der SS, sondern Teil eines Mordkomplotts«, ­schreiben Karin Graf und Florian Ross vom Bildungswerk Stanisław Hantz. So kam Niemann zum »Samariterstift Schloss Grafeneck« in Baden-Württemberg, wo ab Januar 1940 über 10 000 Menschen mit Behinderungen ermordet wurden. Niemann war dort als »Desinfektor« eingesetzt, er verbrannte die Leichen und lernte, so Graf und Ross weiter, »wie Menschen möglichst schnell und effektiv in einer Gaskammer ermordet und anschließend ihre Leichen verbrannt werden konnten. Es lag nahe, diese Experten mit ihrem Spezialwissen beim Aufbau und der Inbetriebnahme weiterer Mordanstalten einzusetzen.« Und so war Niemanns nächste Station die Tötungsanstalt Bernburg, wo bis August 1941, dem offiziellen Beenden des »Euthanasie«-Programms durch Hitler, über 9 000 Kranke und Pflegebedürftige getötet wurden. Etwa zu dieser Zeit wurde Niemann nach Polen abkommandiert, wo er und weitere ehemalige »T4-Tötungsspezialisten« in Belzec am Aufbau eines »Versuchslagers« für die Ermordung der polnischen Juden beteiligt waren – sie hatten sowohl die Infrastruktur der Lager zu entwickeln wie auch die Mordmethoden zu erproben. 1942 war er auch am Aufbau von Sobibor beteiligt, wo er als stellvertretender Lagerkommandant den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hatte.

Als unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sensationell bewerten die Herausgeber die Fotos der Beerdigung von Niemann, die darauf hindeuten, dass die zentrale Rolle der »Kanzlei des Führers« bei der Durchführung der »Aktion Reinhardt« neu bewertet werden muss, da eigens zwei Vertreter der Kanzlei aus Berlin angereist waren – bislang war man davon ausgegangen, dass die Hauptverantwortung für die Lager bei Odilo Globocnik als Leiter der »Aktion Reinhardt« vor Ort lag. So ist die Entdeckung der Fotos ein Glücksfall für die Forschung und bietet die Möglichkeit, Lücken in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Shoah zu schließen.

Und noch etwas zeigten die Fotos der Beerdigung Niemanns, wie Anne Lepper, Andreas Kahrs, Annett Gerhardt und Steffen Hänschen vom Bildungswerk Stanisław Hantz in ihren Beitrag schreiben: »Unfreiwillig dokumentierten die deutschen Täter mit den Bildern vom Militärfriedhof in Chełm jedoch vor allem etwas anderes: den Erfolg des jüdischen Widerstands in Sobibor.« In diesem Zusammenhang sind weitere Details aus dem Alltag der Täter interessant, die die Bilder verraten. So fällt etwa auf, welche zentrale Rolle der Alkohol im Leben der Kommandos in den ­Lagern und in den »Euthanasie«-Mordprogrammen gespielt haben muss, ständig wird getrunken, man lenkt sich mit Musik und Alkohol ab. Und die Forscher weisen darauf hin, dass die Täter in diesen Alltagssi­tuationen in Sobibor keine Waffen trugen, was darauf hindeutet, wie sicher sie sich gefühlt haben müssen – umso überraschender haben sie die Beile der jüdischen Häftlinge getroffen.

Die Fotos aus allem Phasen von Niemanns Karriere zeigen durch ihre Anordnung in den Alben das Bemühen, einen möglichst unbeschwerten Alltag nahezulegen, Normalität aufrechtzuerhalten, Kameradschaft und militärische Freundschaften zu ­dokumentieren und dabei die Opfer auszublenden. Doch auf den zweiten Blick bezeugen die Szenen, in die immer wieder Schornsteine aus dem Hintergrund ins Bild ragen oder der Bagger zu sehen ist, mit dem die Massengräber wieder geöffnet werden mussten, um die Leichen zu verbrennen, wie ungeheuerlich es ist, solche Normalität angesichts der eigenen Taten aufrechterhalten zu wollen.

Bildungswerk Stanisław Hantz / Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hg.): Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und National­sozialismus. Berlin, Metropol-Verlag 2020, 382 Seiten, 29 Euro