Wassyla Tamzalis Kritik am Kulturrelativismus

Post aus Algier

Die algerische Feministin Wassyla Tamzali verteidigt in ihrem Buch »Eine zornige Frau« den universalistischen Feminismus der Gleichberechtigung gegen kulturrelativistische Positionen.

1992 gehörte die algerische Juristin Wassyla Tamzali zu den Mitbegründerinnen des »Collectif 95 Maghreb Egalité«, das für Frauenrechte in den nordafrikanischen Ländern eintrat und einen laizistischen Feminismus propagierte. Als Tamzali drei Jahre später als Koordinatorin der Unseco für Frauenrechte an der Vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking teilnahm, erlebten sie und ihre Mitstreiterinnen allerdings eine herbe Enttäuschung. Auf der Großversammlung mit 40 000 Teilnehmerinnen aus aller Welt fanden die frauenrechtspolitischen Anliegen der von Tamzali mitgegründeten Gruppe kaum Beachtung. Das feministische Kollektiv, zu dem sich Frauen aus Algerien, Tunesien und Marokko zusammengeschlossen hatten, hatte seinen ­eigens zur Konferenz erarbeiteten »100-Maßnahmen-Katalog« für eine »egalitäre Kodifizierung des Personenstand- und Familienrechts im Maghreb« vorstellen wollen. Immerhin arbeiteten feministische Gruppen in Algerien bereits seit einem Jahrzehnt an der Abschaffung des 1984 verabschiedeten Familiengesetzes (Code de la famille algérien), das sie als »Code de l’infamie« bezeichneten. Es regelte das Familien- und Personenstandsrecht, etwa Scheidung, Vormundschaft und Erbrecht, auf Basis der Sharia und legalisierte die Polygamie.

Tamzalis Zorn richtet sich gegen postmoderne Feministinnen. Ihre Haltung habe nicht nur in Algerien zu einer Stärkung fundamentalistischer Positionen beigetragen.

Die nach Peking gereisten Frauen des Collectif rechneten also mit einer scharfen Verurteilung dieser Gesetze und hofften, damit stärkeren Druck auf die heimischen Regierungen ausüben zu können. Aber das Gegenteil war der Fall. Jene »Maghrebinerinnen, die gekommen waren, um die Verbrechen des Islamismus zu denunzieren«, so erinnert sich Tamzali, seien von den zahlreich vertretenen, streng verschleiert und identitär auftretenden Musliminnen aus Kuwait und der Islamischen ­Republik Iran aus den Debatten gedrängt worden.

Kurzerhand habe man vor Ort eine eigene Versammlung abgehalten, so Tamzali, und die »Prinzessinnen des Öls und die Soldatinnen Gottes sich selbst überlassen«. Unverrichteter Dinge abzureisen, kam für die vom islamistischen Terror Verfolgten nicht in Frage: »Wir befanden uns nämlich zur gleichen Zeit in Algerien im Bürgerkrieg.« Seit dem Verbot des Front ­islamique du salut (FIS/Islamische Heilsfront) durch die Militärregierung zwischen den beiden Wahlgängen 1991 hatten jihadistische Gruppen wie die Groupe islamique armé (GIA) und der Mouvement islamique armé (MIA) Algerien in einen Bürgerkrieg gestürzt. Der Terror gegen die Zivilbevölkerung richtete sich mit Verschleierungszwang, Ausgrenzung und sexualisierter Gewalt gezielt gegen Frauen und Mädchen.

In ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch »Eine zornige Frau. Brief aus Algier an die in Europa lebenden Gleichgültigen« schildert Tamzali die als entmündigend und entmutigend erfahrene Kulturalisierung politischer Fragen bei internationalen Gipfeltreffen und politischen Aktionen. Jeglichem Appeasement gegenüber dem Islamismus erteilt sie eine Absage. Die 1941 in Algerien geborene, weltbürgerliche »Nomadin«, die in Algier und Paris gleichermaßen zu Hause ist, verknüpft ihren politischen Appell, einen solidarischen Universalismus ins Zentrum politischen Handelns zu stellen, mit der Warnung davor, in Europa »falsche Toleranz« zu üben, und kritisiert, dass »muslimisch« zu einer identitären Kategorie geworden ist.

Die algerische Feministin will die Freiheiten der Aufklärung und die Errungenschaften der Zweiten Frauenbewegung im Westen gerade auch für die Migranten und Migrantinnen aus den islamisch geprägten Ländern retten. Ihr Zorn richtet sich gegen postmoderne Feministinnen, Linke und Liberale »auf der kopflosen Flucht nach vorne in den Kulturalismus«. Diese Haltung habe in Algerien und Europa – Tamzali bezieht sich vorwiegend auf Frankreich – zu einer Stärkung fundamentalistischer Positionen und Gruppen beigetragen.

Verschreckt vom politischen Kampfbegriff »Islamophobie« und zivilisationsmüde geworden über den Widersprüchen der eigenen Geschichte, so die Kritik Tamzalis, erwärmten sich einstige Unterstützer der antikolonialen Befreiung als nun postkolonial Geläuterte für vormoderne Verhältnisse, obschon man für sich persönlich an den emanzipatorischen Errungenschaften gern festhalte. Tamzali richtet sich gegen linkes Fraternisieren mit dem sich »gemäßigt« gebenden Islamismus, der in Europa die »aberwitzige Bewegung« eines islamischen Feminismus mit seiner rhetorischen Instrumentalisierung von Frauenrechtskämpfen hervorgebracht habe, um die mit der »Würde« der Muslimin abgespeiste Frau in einer untergeordneten Position zu halten. Dem Schlagwort von der »Sichtbarkeit« verschleierter Frauen setzt Tamzali in einem zentralen Kapitel (»Der muslimische Eros«) ihre Analyse der shariaimmanenten Logik sexualisierter Gewaltförmigkeit und des Zusammenhangs zwischen Hijab und unsu­blimierter islamischer Sexualmoral entgegen.

Die deutsche Buchausgabe erscheint zu einer Zeit, da man in Frankreich – einem europäischen »Experimentierfeld« des Islamismus (Tamzali), wo das Buch 2009 erschien – über »vom Islamismus eroberte Territorien«, so eine aktuelle empirische Studie, diskutiert und Präsident Emanuel Macron Mitte Februar deren republikanische »Rückeroberungen« per Aktionsplan ankündigte. In der Anfang 2020 veröffentlichten Langzeitstudie »Les territoires conquis de l’Islamisme« zeichnet das Team um Bernard Rougier, Direktor am Zentrum für arabische und orientalische Studien der Universität Paris-Sorbonne, nach, inwiefern es Islamisten in den sozialpolitisch von der ­Republik vernachlässigten Trabantenvorstädten gelungen sei, eine mit dem republikanischen Konsens brechende Gegengesellschaft mit weitverzweigter Infrastruktur zu etablieren. Diese Gegengesellschaft übe in hohem Maße soziale Kontrolle über »ihre« Bewohnerinnen und Bewohner muslimischer Abstammung aus, so die Studie.

Tamzalis Warnung vor dem islamistischen Expansionsstreben bleibt dringlich. Den Bezug zu Deutschland stellt die Frauenrechtlerin Naïla ­Chikhi im Nachwort her. In ihrem Beitrag zur deutschen Ausgabe beschreibt die Referentin für Frauenpolitik und Integration, die von Campusaktivisten kürzlich von einem Podium vertrieben werden sollte, auf dem sie das Kopftuch kritisierte, ihre politisch prägenden Erfahrungen: Einst vor dem Terror der algerischen Islamisten geflohen, sieht sie sich heute von Anhängerinnen des Intersektionalismus genötigt, Hijab und Geschlechterapartheid als Ausdruck der »Vielfalt« zu akzeptieren. Es wäre wünschenswert, dass das Buch in jenen Aktivistenkreisen rezipiert wird, die stets vorgeben, an marginalisierten Stimmen interessiert zu sein.

Wassyla Tamzali: Eine zornige Frau. Brief aus Algier an die in Europa lebenden Gleichgültigen. Aus dem Französischen übersetzt von Lou Marin. Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2020, 175 Seiten, 15 Euro