Yanis Varoufakis im Gespräch über die Folgen der Coronokrise für Europa

»Corona hat das Potential, uns alle zu zerstören«

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Interview Von

Varoufakis

Yanis Varoufakis, geboren 1961 in Athen, ist Wirtschaftswissenschaftler, Politiker, Buchautor und Blogger. Als Finanzminister der griechischen Regierung von Alexis Tsipras weigerte er sich 2015 in den Verhandlungen mit der EU, weitere Sparmaßnahmen zu akzeptieren. Nach seinem Rücktritt im selben Jahr wurde er zum weithin bekannten Protagonisten einer Bewegung für die Reform der Euro-Zone. Varoufakis lehrte an Universitäten in England, Australien und den USA und an der Universität Athen. Er ist Mitbegründer der paneuropäische Bewegung DiEM25, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt. Für den griechischen Ableger seiner Bewegung, die Partei Mera25, wurde er kürzlich ins griechische Parlament gewählt. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter auch auch die Vorlage für das von Costa-Gavras gedrehte Politdrama »Adults in the Room«, das die Verhandlungen der Euro-Gruppe 2015 darstellt.

 

… gegen das sich vor allem Deutschland stemmt.
Es geht nicht darum, dass Deutschland zahlt. Es ist auch keine Frage von Philanthropismus. Es geht konkret darum, ob die Mehrheit der Menschen auch in Deutschland diese Krise überleben will. Dann muss man die Euro-Zone stärken, denn es geht um das gemeinsame Überleben. Die D-Mark-Zeiten sind nun mal vorbei und werden auch nicht wiederkommen, selbst wenn viele sich das vielleicht wünschen mögen. Euro heißt Verantwortung in Gemeinsamkeit und die Deutschen sollten ein Interesse daran haben, die Euro-Zone zu stärken.

"Die »schwarze Null« ist ein Witz der Geschichte. Niemand braucht sie. Unsinnige Grenzen bei der Verschuldung sind generell das wirtschaftlich Unproduktivste, was es gibt. Die no debt policy taugt nicht." 

Warum das denn? Eine Mehrheit der Deutschen lebt doch in Wohlstand. Warum sollten sie gegen ihre eigenen Interessen handeln?
Weil Investitionen allen guttun, auch den Geldgebern. Je größer die Krise ist, desto größer müssen die Investitionen ausfallen, nur so funktioniert eine gute Wirtschaft, und das meine ich auch mit dem Problem, das der Vertrag von Maastricht geschaffen hat. Klar, Maastricht funktioniert, auch die Währungsunion, was aber nicht läuft, ist die Wirtschaft. Sie ist kaputt und und genau das offenbart nun Corona. Sehen Sie sich China an, die USA, Großbritannien und die Exporte. Was vor dem Zusammenbruch schützt, sind Investitionen. Der Moment, in dem zum Beispiel Italien neues Wachstum durch Investitionen von außen generieren könnte, wäre volkswirtschaftlich auch der Moment, in dem Deutschland und ebenso die nordeuropäischen Länder wieder neues Wachstum erzeugen könnten. Diese ganze Denkweise des »Wir geben, die nehmen« ist komplett falsch. Das zeigt die Geschichte, nicht nur die kurze Zeitspanne nach Maastricht. Überleben funktioniert eben nur in Gemeinschaft. Es geht dabei nicht um linke Politik, auch nicht um Ideologien, sondern um Vernunft. Wer das angesichts der Todesraten von Covid-19 immer noch nicht versteht, hat nichts aus der Geschichte der Menschheit gelernt. In Krisenzeiten, wenn es existentiell wird, braucht es einen Zusammenhalt. Diejenigen, die gegeneinander arbeiten, zerstören auch sich selbst – und Covid-19 hat das Potential, uns alle zu zerstören. Aber nicht nur durch das neuartige Coronavirus, sondern auch durch die Auswirkungen der Pandemie. Die langfristigen wirtschaftlichen Folgen kennt doch noch niemand. Das zumindest geben auch diejenigen zu, die nicht mit mir einer Meinung sind. Aber diese Befürchtungen teilen sie.

Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte forderte daher eine gemeinsame, starke und koordinierte Reaktion der EU und wagte sich mit der Forderung nach Coronabonds vor …
… und wurde heftig kritisiert. Aber er hat recht. Er muss sogar noch dringender werden mit seinen Forderungen, wie gesagt nicht zuletzt im Sinne auch der Deutschen.

Paolo Savona, der Präsident der italienischen Börsenaufsicht, warf der Bundesregierung Nazimethoden vor, ebenso die Tageszeitung La Stampa. In der Bild-Zeitung hieß es darauf, Italien rede von der Kriegsvergangenheit, um Geld von den Deutschen zu bekommen.
Wenn die Redaktion von Bild das kritisch gemeint haben sollte, habe ich eine ganz klare Botschaft für das Blatt und für jeden: Ein Denken des Gegeneinanders ist vorbei. Falls so etwas Tödliches wie die jetzige Gefahr uns überhaupt etwas lehren darf, dann ist es die Tatsache, dass das, was in Europa passiert, auch Deutschland treffen wird; was sich in der Welt abspielt, wird auch Europa erreichen. Es gibt in all diesen großen und kleinen Diskussionen in Europa, in der EU, immer den großen Fehler, dass die Probleme Süden gesucht werden. Dort liegt das Problem aber nicht, der Süden ist die Zukunft. Wer wirtschaftlich denken will, nicht philanthropisch, muss das verstehen.

Coronabonds sind nicht das einzige Thema, das die Mitgliedsstaaten entzweit. Die Visegrád-Staaten, vor allem Ungarn, verfolgen eine ganz eigene Linie. In der vergangen Woche urteilte der Europäische Gerichtshof, deren Asyl- und Migrationspolitik widerspreche den Regeln der EU.
Wir dürfen diese Dinge nicht zulassen. Wir sind Europa. Warum wird nicht mehr dagegen getan? Ich frage die Europäer: Ist das das Europa, das ihr wollt? Macht was dagegen, machen wir alle etwas dagegen! Dann bekommen wir das Europa, das wir wollen, und eine Welt, in der das unnötige Sterben endet.

Aber man muss konstatieren, dass sich manche politische Fronten in den vergangenen Jahren sehr verschoben haben. Kapitalismuskritik findet nicht mehr nur in der Linken statt.
Absolut. Die Krise des Kapitalismus wird jeden treffen. Und viele, die bisher noch nicht viel über den Kapitalismus nachgedacht haben, ahnen jetzt vielleicht schon manches von dem, was bevorstehen könnte. Auch denen, die bisher mit dem Kapitalismus noch keine großen Probleme hatten, weil er ihnen bisher noch ein relativ gutes Leben bescherte. Aber Kapitalismus heißt: Nichts ist für immer.

Sie meinen, das ist das Wesen des Kapitalismus? Da würden aber nicht nur die sogenannten Wirtschaftsweisen in Deutschland widersprechen oder Finanzminister Olaf Scholz, auch Karl Marx sah das in Teilen anders.
Aber es ist das Wesen des Kapitalismus, und das allgemeine Wesen wird in besonderen Krisen nun einmal deutlicher. Die Krise des Kapitalismus war schon vor der Pandemie angefacht, nicht erst Covid-19 produziert nun Armut in unvorstellbarem Ausmaß, Handelskriege, Exportüberschüsse hie, Unterproduktion da. Die Krisen des Kapitalismus treffen jeden, auf die eine oder andere Weise. Natürlich, die einen trifft es weniger, die anderen mehr in Krisen- oder in Rezessionszeiten. Aber treffen wird es jeden, der Kapitalismus macht keinen Halt, so etwas kennt er nicht, weder bei der Vermehrung von Reichtümern noch bei deren rücksichtsloser Zerstörung. Nichts ist für immer.

Menschen, die täglich ums Überleben kämpfen, können sich damit nicht beschäftigen, und diejenigen, die in Wohlstand leben, haben oft keine Lust dazu. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher hat geschrieben, dass es heute vielen leichter fällt, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.
Der Spielfilm »Titanic« sagte eigentlich alles aus und illustriert die historische Zäsur, die der Untergang bedeutet hat. Es ist ein simples Bild, aber oft stimmen die simpelsten Bilder. Die Zeiten der Sorglosigkeit sind vorbei und gerade deshalb lehrt der Untergang der »Titanic« eigentlich alles über den Kapitalismus. Ein großes, luxuriös erscheinendes Schiff wie unsere Welt wird nicht einfach untergehen, aber wenn etwas Unvorhersehbares geschieht oder wenn durch Fahrlässigkeit bestimmte Risiken ignoriert werden, kann es sehr schnell sinken. Es geht nicht um Panikmache, sondern um die realistische, wenn auch bildhafte Beschreibung eines Zustandes und eines Prozesses: Wenn das Schiff sinkt, gibt es kein Entkommen. Wer in der ersten Klasse reüssiert und keinerlei Mangel leidet, wird nicht verschont bleiben. Zuerst ertrinken die »blinden Passagiere«, aber das Wasser erreicht alle, das ist das Naturgesetz.

Bisher trifft die Krise aber vor allem diejenigen, die ganz unten sind. Die anderen bemerken im Supermarkt lediglich einen Mangel an Toilettenpapier. Ist das schon die Krise?
 Deutschland befindet sich sogar in einer gewaltigen Krise und die Knappheit von Toilettenpapier ist lediglich ein Hinweis auf ein strukturelles Problem. Die ganzen Hilfspakete, die jetzt aufgelegt werden, zeigen, dass die politisch Verantwortlichen diese Vorahnung teilen.

Die berüchtigte »schwarze Null« wird inzwischen selbst von Wirtschaftsverbänden in Frage gestellt.
Die »schwarze Null« ist ein Witz der Geschichte. Niemand braucht sie. Unsinnige Grenzen bei der Verschuldung sind generell das wirtschaftlich Unproduktivste, was es gibt. Die no debt policy taugt nicht. Die Politik der »schwarzen Null« hat mit Politik eigentlich überhaupt nichts zu tun, sie ist ein Fetischismus, eine Ideologie, eine Religion, darüber kann man verrückt werden, weil es eine Position um der Position willen ist.

Die EU-Kommission kündigte schon vor drei Wochen an: »Hauptaufgabe nach Corona ist der Wiederaufbau der Wirtschaft.« Welches sind Ihre konkreten Forderungen? Nennen Sie uns bitte drei.
Zuerst einmal sofortige Stimuli für die Wirtschaft, was konkret heißt, Eurobonds, wie sie Conte und andere vorgeschlagen haben. Damit hilft man auch den Bürgern und dem vielbeschworenen Mittelstand nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Zum Zweiten muss ein »Green New Deal« eingeleitet werden, der den sozialen Umbau der Gesellschaft und der Arbeitswelt zum Ziel hat, denn jedes Zögern schadet nur. Die Welt verändert sich so oder so, nur in welche Richtung, das muss jetzt gestaltet werden. Zum Dritten muss die Binnenwirtschaft in ganz Europa angekurbelt werden, da hat die EU-Kommission bedingt recht. Daher braucht es eine Sofortauszahlung als Krisenvorschuss für jeden in Europa durch die Europäische Zentralbank in Höhe von mindestens 2 000 Euro.

Also eine Sofortzahlung als bedingungsloses Grundeinkommen?
Ja, jetzt ist die Zeit dafür, wenn es nicht schon längst die Zeit dafür war.