Auch während der Pandemie sind nicht alle Zwangsräumungen ausgesetzt

Zu Hause bleiben ohne Zuhause

Zwangsräumungen sind wegen der Pandemie zwar in vielen Fällen ausgesetzt. Mittelfristig sei aber ein grundlegendes Umdenken in der Wohnungspolitik erforderlich, sagen Kritiker.

Wenn Menschen die Räumung droht, laufen sie Gefahr, auf Sammelunterkünfte angewiesen zu sein oder sogar obdachlos zu werden. Während der Covid-19-Pandemie ist das noch schlimmer als sonst, die Verhaltensregeln zum Infektionsschutz können in solchen Fällen kaum eingehalten werden.

Ende März ist das »Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie« in Kraft getreten. Darin findet sich keine Antwort auf die Frage, wie in Coronazeiten mit Räumungstiteln zu verfahren ist. Das Gesetz bestimmt lediglich, dass Mietern, die zwischen Anfang April und Ende Juni ihre Miete nicht zahlen, nicht gekündigt werden darf – »sofern die Nichtleistung auf den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beruht«. Räumungstitel, die zum Beispiel wegen früherer Mietrückstände oder einer Eigenbedarfskündigung ausgesprochen werden, können also weiterhin vollstreckt werden.

Wie viele Räumungen in Deutschland stattfinden, wird nicht statistisch erfasst. Eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (Linkspartei) von 2019 ergab, dass im Jahr 2018 mehr als 54 000 Zwangsräumungen in Auftrag gegeben wurden. Zahlen aus Bayern fehlten dabei allerdings. Zudem gab es keine Auskunft dazu, wie viele Räumungen tatsächlich vollzogen wurden. Einige könnten zum Beispiel durch die Nachzahlung ausstehender Mieten noch abgewendet worden sein. Weil der Bund die Behandlung von Zwangsräumungen während der Pandemie nicht verbindlich geregelt hat, haben einzelne Bundesländer die Initiative ergriffen. Im Land Bremen gibt es eine Handreichung des Oberlandesgerichts (OLG) für Gerichtsvollzieher. Öffentlich zugänglich ist sie nicht. Matthias Koch, der Pressesprecher des Bremer Justizressorts, sagte der Jungle World auf Anfrage, Gerichtsvollziehern werde empfohlen, ihren Handlungsspielraum dahingehend auszureizen, dass möglichst viele Räumungen aufgeschoben werden, insbesondere wenn den Schuldnern die Unterbringung in einer Sammelunterkunft droht. Denn das sei derzeit im Hinblick auf den Infektionsschutz dringend zu vermeiden. Die Handreichung sei nicht befristet, sie solle sich am Verlauf der Pandemie orientieren und entsprechend aktualisiert werden. In Hamburg und weiteren Bundesländern gebe es ähnliche Regelungen. Eine Absprache zwischen den Bundesländern habe jedoch nicht stattgefunden, so Koch.

Auch der Deutsche Gerichtsvollzieherbund (DGVB) hat einen Handlungsleitfaden für Gerichtsvollzieher erstellt. Gerichtsvollzieher haben demnach in jedem Räumungsverfahren die Möglichkeit, die juristischen Entscheidungen einer Rechtsmittelprüfung unterziehen zu lassen. Wenn zum Beispiel ein staatliches Hilfsangebot, auf das die zu räumende Person Anspruch hätte, nicht gewährleistet werden könne, sei das ein Grund, eine Räumung aufzuschieben. Der Leitfaden weist zudem auf den einzuhaltenden Sicherheitsabstand von 1,5 Metern hin sowie auf die Notwendigkeit, dass sich Vollstreckungsbeamte selbst schützen. Ist der Sicherheitsabstand nicht gewährleistet, wird davon abgeraten, eine Wohnung zu räumen. In der Praxis entschieden die Gerichtsvollzieher über jeden Einzelfall, sagte Jörg Behrens, der Vorsitzende des Bremer Landesverbands des DGVB, der Jungle World. Parzellen, Garagen und Gewerbeflächen würden noch geräumt, Wohnungen meist nur, wenn der Schuldner die Wohnung bereits verlassen hat.

Nelson Janßen, Bürgerschaftsabgeordneter der Linkspartei für Bremerhaven, unterstützt diese Verfahrensweise: »Zwangsräumungen, insbesondere in Zeiten von Corona und physical distancing, sind eine unzumutbare soziale Härte, die unbedingt vermieden werden muss.« Die Maßnahmen, die zurzeit getroffen würden, seien jedoch nicht ausreichend. Erforderlich sei ein grundlegendes Umdenken in der Wohnungspolitik. »Zwangsräumungen können häufig zu Obdachlosigkeit führen, Menschen können dadurch ihren Job, das soziale Umfeld und jegliche Perspektive verlieren. Deshalb lehnen wir Zwangsräumungen ab«, so Janßen. Neben bezahlbaren Mieten, mehr Wohnraum in kommunaler Hand und der Erhöhung der übernommenen Kosten für die Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern fordert Janßen auch einen sogenannten Mietendeckel, wie ihn die rot-rot-grüne Koalition im Land Berlin bereits per Gesetz eingeführt hat: »Der Mietendeckel ist ein weiteres wichtiges Instrument, um die steigenden Mieten effektiv zu dämpfen, so dass es erst gar nicht dazu kommt, dass Menschen ihre Miete nicht zahlen können.«

Ingmar Vergau, der Landesgeschäftsführer von »Haus und Grund Bremen«, bezeichnet Mietendeckel als »Sozialismus in Reinkultur«. Den derzeitigen Umgang der Gerichtsvollzieher mit Zwangsräumungen hält er für zwiespältig. Wenn ein richterliches Urteil für eine Zwangsräumung gefällt werde, sollten Gerichtsvollzieher das nicht ver­ändern. Der Gesundheitsschutz habe zwar Vorrang; Gerichtsvollzieher sollten darauf achten, nur zu räumen, wenn der Sicherheitsabstand gewährleistet ist. Die drohende Unterbringung in einer Sammelunterkunft sei aber per se kein Grund, eine Räumung aufzuschieben.

In bremischen Sammelunterkünften habe sich die Lage in den vergangenen Wochen nicht wesentlich verändert, sagt Katharina Kähler, die Bereichsleiterin für die Wohnungslosenhilfe bei der Inneren Mission Bremen. Die Unterkünfte seien nicht überfüllt und weiterhin normal in Betrieb. Die Hygieneregeln stellten eine Herausforderung dar, die bislang jedoch bewältigt werde. Die Weisung des OLG hält Kähler für richtig. Es sei gerade in der derzeitigen Situation wichtig, den Verlust der Wohnung zu verhindern. Vor allem Menschen in prekären Lebensverhältnissen belaste die Krise stark. »Je länger diese Situation anhält, desto schwerere Auswirkungen hat das für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten«, so Kähler.

Diese Einschätzung teilt Benjamin Grau vom »Bremer Bündnis Zwangsräumungen verhindern«. Die Folgen der von der Pandemie verursachten Krise träfen »vor allem die Prekarisierten und Lohnabhängigen«, auf sie würden die Kosten der Krise abgewälzt, sagt Grau der Jungle World. Das Bündnis arbeitet gemeinsam mit Betroffenen gegen drohende Zwangsräumungen, es berät sie, begleitet sie zu Gerichtsterminen und blockiert notfalls Hauseingänge. »Auch nach der Bankenkrise 2008 haben wir diese Erfahrungen schon gemacht: Immobilien und das Wohnen wurden zu reinen Spekulationsobjekten.« Deshalb müsse das Wohnungswesen dem Markt entzogen werde, so Grau.