Die Coronakrise in Russland

Dubiose Statistiken

Die russische Regierung lockert die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie. An den offiziellen Statistiken zu den Infektions- und Todeszahlen gibt es erhebliche Zweifel.

Nach über sechs Wochen ist Schluss mit den häuslichen Coronaferien. Ende März ordnete Präsident Wladimir Putin für ganz Russland eine Auszeit an, die bis zum Ende der traditionellen Maifeiertage andauern sollte. Am 11. Mai setzte er dem unfreiwilligen Müßiggang ein Ende. Die russischen Regionen sind angehalten, die Einschränkungen allmählich zu lockern. An diesem Tag stieg die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen um 11 656 – so viele wie nie zuvor. Da traf es sich gut, dass schon am nächsten Tag die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen sank. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa teilte zudem mit, die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 sei in Russland um das 7,4fache niedriger als im weltweiten Durchschnitt.

Viele westliche Medien zweifeln an der offiziellen Darstellung. Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, bezeichnete entsprechende Kritik als Teil einer gezielten Desinformationskampagne. Mit Verweis auf die für die Hauptstadt Moskau öffentlich zugänglichen Sterbedaten der vergangenen Jahre berichteten die Zeitungen Financial Times und New York Times, im April 2020 seien überdurchschnittlich viele Menschen verstorben, nämlich über 1 800 oder 20 Prozent mehr als sonst in diesem Monat üblich. Für April verzeichnet die offizielle Statistik 658 an Covid-19 Verstorbene in Moskau; die Ursachen der übrigen Todesfällen werden nicht aufgeschlüsselt.

Der Zeitung Nowaja Gaseta sagte ein ehemaliger Mitarbeiter der staatlichen Statistikbehörde, die Angaben zur Sterblichkeit gäben ein verzerrtes Bild wieder. Putin habe nach seinem Wiedereintritt ins Präsidentenamt 2012 die Regionen aufgefordert, die Todesrate bei häufig auftretenden Krankheiten deutlich abzusenken. Die hochgesteckten Ziele seien jedoch nicht erreichbar, weshalb die regionalen Gesundheitsministerien je nach Bedarf Verschiebungen in ihren Angaben vornähmen. Solche willkürlich zusammengestellten Übersichten seien völlig unbrauchbar, um ihnen die Ursachen für tödliche Krankheitsverläufe zu entnehmen.

Beiträgen im staatlichen Fernsehen verlauten, dass Ärztinnen und Ärzte vor dem Virus geschützt werden, ihr Bestes geben und ihre Leistungen mit Lohnzuzahlungen honoriert werden. In scharfem Kontrast dazu stehen über Blogs oder staatsferne Medien verbreitete Schilderungen des medizinischen Personals über unhaltbare Zustände in Krankenhäusern und beschämend niedrige Risikozuschläge. Anonym oder auch mit Namensnennung berichten Krankenhausangestellte, sie müssten ohne angemessene Schutzkleidung auskommen und auch mit für Covid-19 typischen Symptomen weiter ihrer Arbeit nachgehen. Sie würden nicht auf das Virus getestet oder bekämen die Testergebnisse nicht mitgeteilt. Wer sich mit seiner Kritik nicht zurückhält, riskiert ein Verhör bei den Polizeibehörden wegen Verbreitung von fake news. In ihrer auf Youtube bereits dreieinhalb Millionen Mal aufgerufenen Videodokumentation mit dem Titel »Virus des Schweigens« zeigt die Journalistin Irina Schichman, wie um jeden Preis der schöne Schein gewahrt wird und Chefärzte entweder gar nicht mehr zur Arbeit gehen oder sich in ihren Arbeitszimmern von der wenig erbaulichen Realität in den vom Virus kontaminierten Abteilungen abschotten.

Täglich gibt es neue Meldungen über infiziertes Klinikpersonal. Bislang 222 Namen sind in einer von medizinischen Angestellten geführten Liste zum Andenken an Kolleginnen und Kollegen aufgezählt, die an Covid-19 starben. Weil dringend Aushilfen benötigt werden, erhielten Medizinstudierende die Anweisung, Praktika in Krankenhäusern abzuleisten, in denen an Covid-19 Erkrankte behandelt werden. Wenn sie sich weigern, droht ihnen die Exmatrikulation. In St. Petersburg, wo über 10 000 Fälle diagnostiziert wurden, davon 91 mit Todesfolge, haben sich offiziellen Angaben zufolge 1 465 Angestellte im Gesundheitssektor infiziert. Offenbar um für diese Berufsgruppe vorgesehene Entschädigungszahlungen in Grenzen zu halten, sieht die lokale Gesundheitsbehörde eine umfangreiche Prüfung etwaigen Selbstverschuldens vor, etwa durch laxen Umgang mit Hygienevorschriften.

Mitte Mai legte Gouverneur Alexander Beglow dem Petersburger Stadtparlament einen Bericht vor, wonach seit Anfang März 697 Menschen außerhalb der Krankenhäuser an Lungenentzündung verstorben seien. Seit dem 12. Mai gilt an allen öffentlichen Orten Masken- und Handschuhpflicht – für Privathaushalte ein nicht unerheblicher Kostenfaktor, weshalb sich viele nicht an die Vorgaben halten. Doch eine Verteilung von Schutzmaterial an alle lehnt Beglow ab, denn, so sein Argument, in der Stadt hielten sich zu viele nicht dauerhaft Ansässige auf, die dann auch in den Genuss von Masken auf Staatskosten kämen.

Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin nimmt sich asiatische Länder zum Vorbild, er baut auf Kontrolle und Überwachung. Nur funktioniert auch das nicht reibungslos. Eine App soll Personen mit Covid-19-Verdacht und mit akuten Atemwegserkrankungen in Quarantäne schicken und deren Einhaltung überwachen. Doch die App generiert haufenweise falsche Bescheide, so dass auch bei Einhaltung strenger Quarantäne mitunter hohe Bußgelder generiert werden. Sobjanin plädiert weiterhin für harte Einschränkungen, doch auf Putin scheint die schwindende Zustimmung zum staatlichen Kurs derzeit mehr Eindruck zu machen. Wie vor allem das Drängen der Regierung zeigt, allen voran des Ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten Andrej Belousow, der derzeit die Amtsgeschäfte des an Covid-19 erkrankten Ministerpräsidenten Michail Mischustin führt und zuvor ein langjähriger Berater Putins war, scheint die Priorität des Präsidenten eine schnelle Rückkehr zur Normalität im Interesse der Wirtschaft geworden zu sein.

Eine angemessene Unterstützung für Kleinunternehmen und Selbständige lehnt die Regierung allerdings weiterhin ab. Ein Zugeständnis gibt es dennoch, was der Oppositionelle Aleksej Nawalnyj sich und seinem Fünf-Punkte-Plan zum Weg aus der Krise zuschreibt. Ab dem 1. Juni haben alle Familien Anspruch auf eine Einmalzahlung von umgerechnet rund 125 Euro pro Kind im Alter zwischen drei und 16 Jahren.