Covid-19 verschärft ohnehin ­bestehende Ernährungsprobleme in armen Ländern

Die falschen Prioritäten gesetzt

Die Rede von Naturkatastrophen und der Covid-19-Pandemie lenkt von den eigentlichen Ursachen von Hungersnöten in armen Ländern ab.

Mathias Mogge, der Generalsekretär der Welthungerhilfe, ist angesichts der Coronakrise so pessimistisch wie schon lange nicht mehr: »Wir müssen damit rechnen, dass die Zahl der Hungernden auf über eine Milliarde steigen wird.« Für Arme sei »die Gefahr, an Hunger zu sterben, bedrohlicher als das ­Virus selbst«. Nahezu alle Fachleute aus dem humanitären Bereich teilen diese Befürchtung und begründen sie so: Die Coronakrise trete zu bereits bestehenden Krisen hinzu und verschlimmere sie wie ein Brandbeschleuniger das Feuer.

Beispiel Ostafrika: Schon in den vergangenen Jahren haben unter anderem vom Klimawandel begünstigte Dürren und andere Extremwetterereignisse die kleinbäuerliche Bevölkerung in existentielle Nöte gestürzt. Anfang des Jahres verwüstete in Kenia eine Heuschreckenplage die Ernten. Soziale ­Sicherungssysteme, so es sie denn gab, sind kaputtgespart worden – teils durch Versagen der einheimischen herrschenden Klasse, teils aufgrund von Auflagen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds.

Doch nun verschlimmert die Pandemie alles noch in ungeahntem Ausmaß. Ausgangssperren und fehlende Transportmöglichkeiten verhindern, dass Felder bestellt werden. Lokale Märkte sind geschlossen und auch andere Absatzmöglichkeiten entfallen. Die Nachfrage aus den Industriestaaten ist geschrumpft. Rücküberweisungen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten kommen nur noch spärlich, denn gerade im Billiglohnsektor verloren viele ihren Job. All das stürzt Millionen Menschen in Armut – und damit in Mangelernährung und Hunger.

Schon vor der Coronakrise war sich die Fachwelt einig: Hungerkrisen sind menschengemacht, anders als es die Rede von Naturkatastrophen und Pandemien glauben macht. Hunger beruht heutzutage in erster Linie auf einem Verteilungsproblem, nicht auf einem Produktionsdefizit. Global stellt die Landwirtschaft genug Lebensmittel her, um alle Menschen ausreichend zu ­versorgen, auch wenn es lokal und regional zu krisenbedingten Rückgängen kommt. Selbst in Zeiten der Pandemien ließen sich temporäre Engpässe durch ein kluges Nahrungsmittelmanagement relativ leicht beheben.

Die Coronakrise offenbart einmal mehr das eklatante Versagen des Weltmarkts, dem die sogenannte inter­nationale Gemeinschaft selbst in existentiellen Fragen wie Hungerbekämpfung vertraut. Dieser keineswegs freie Weltmarkt hat am Überleben einer in die Überflüssigkeit gezwungenen Armutsbevölkerung kein Interesse, es rechnet sich nicht und ist nicht systemrelevant. In der Coronakrise werden Billionen Euro und Dollar verteilt, wenn es den dominanten Wirtschaftszweigen der Industrieländer nutzt. Die in der Entwicklungszusammenarbeit Engagierten müssen hingegen weiter um das ohnehin schon armselige Ziel dieser Länder bangen, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungs­hilfe aufzuwenden.

Dabei könnte mehr Geld durchaus helfen: Viele Hilfsorganisationen sind im vergangenen Jahrzehnt dazu übergegangen, den von Armut und Hunger getroffenen Menschen Bargeld zu geben, damit sie sich etwas zu essen oder andere essentielle Dinge kaufen können. Das wirkt effektiver als viele gutgemeinte Projekte zur landwirtschaftlichen Entwicklung und ermöglicht überdies mehr Selbstbestimmung.

Doch bei der Hungerbekämpfung mangelt es an Bereitschaft zum »Wumms«. Selbst einen kreuzbraven CSU-Politiker wie Entwicklungsminister Gerd Müller macht das wütend. Er ­beklagte Ende April, die Welt habe trotz der Coronakrise noch immer falsche Prioritäten: »2019 wurden nahezu 2 000 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Es fehlt am Willen der Weltgemeinschaft.« Zum Vergleich: Das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen bekam im selben Jahr gerade einmal acht Milliarden US-Dollar an Zuwendungen. Jedes Jahr muss das WFP erneut um die freiwilligen Beiträge der Regierungen betteln. Und es sind bei weitem nicht nur die UN-kritischen USA, die bremsen, sondern auch die EU-Staaten. »Bis heute ist kein einziger Cent zusätzlich zur Krisenbekämpfung in die Entwicklungs- und Schwellenländer geflossen«, ärgert sich Müller.

So schwer es einem als Kritiker deutscher Entwicklungspolitik fällt, man kann dem CSU-Minister nur zustimmen, wenn er zuspitzt: »Und deshalb ist Hunger Mord, wenn wir zuschauen und nicht entschieden helfen.«