Das Nachtleben von Tel Aviv

Beten in Jerusalem, arbeiten in Haifa, feiern in Tel Aviv

Eine Tour mit dem Fahrrad durch die Partystadt des Nahen Ostens, deren Nachtleben unter den Pandemiemaßnahmen leidet.
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Das Nachtleben von Tel Aviv gehört wegen der vielfältigen Clubszene und der unzähligen Bars zu den aufregendsten weltweit. Die Stadt mit ihrem mediterranen Klima, ihrer Lage am Meer und ihrer lockeren Atmosphäre zieht internationales Publikum an und gilt nicht nur bei Europäern als eines der beliebtesten Reiseziele. Ob am Strand von Tel Aviv – den National Geographic zu einem der zehn besten Stadtstrände weltweit kürte – oder am alten Hafen: Nachtschwärmer kommen auf ihre Kosten. Mit der Ausbreitung von Sars-CoV-2 hat sich aber auch in der offensten Stadt im Nahen Osten einiges verändert. Um die Epidemie einzudämmen, verhängt die Regierung zeitweilig Ausgangssperren und ordnete eine Reihe von Beschränkungen des öffentlichen Lebens an, etwa die Schließung von Veranstaltungshallen sowie zahlreicher Bars und Nachtclubs.

»Hier wird gefeiert, als ob es kein Morgen gäbe«, sagt dagegen der Schlagzeuger und DJ Shai Bakul. Der 47jährige legte schon Platten in der Diskothek des mittlerweile abgerissenen »Dolphinariums« auf, wo ein palästinensischer Selbstmordattentäter im Juni 2001 21 Israelis tötete. »Ob unter dem Raketenhagel der Hamas oder auch jetzt während Covid-19: Die Partymetropole Tel Aviv lässt sich durch nichts erschüttern«, resümiert Bakul.

Beim Frühstück in einem der zahlreichen Cafés im südlichen Stadtteil Florentin, vor dessen Kulisse aus Künstlerwerkstätten, Märkten und allgegenwärtigen Graffiti ein bohemienhafter Lebensstil gedeiht, erzählt mir der Musiker davon, wie das Tel Aviver Nachtleben seine bisher größte Krise übersteht. »Auch wenn einige Clubs Insolvenz angemeldet haben, das Feiern lassen wir uns nicht verbieten.« Bakul ist DJ im »Kuli Alma«, wo er auch mit seiner Band spielt. Der Club im wiedererblühten Süden der Stadt ist eine Institution in Tel Aviv, er macht einem größeren Publikum von Musik- und Kultur­begeisterten vor allem Street Art und Vintage-Videoinstallationen zugänglich. Zum Club gehören ein Klanglabyrinth mit verschiedenen Soundstationen und ein Innenhof, in dem Ausstellungen unter freiem Himmel gezeigt werden.

Bald nach ihrer Gründung wurde die erste »hebräische Stadt« die Partyhochburg des Nahen Ostens. Als Tel Aviv 1909 aus dem Nichts entstand, dauerte es nur wenige Jahre, bis die ersten ausschweifenden Purim-Paraden (eine Art jüdischer Fasching) abgehalten wurden. Schon vor der Staatsgründung Israels 1948 hieß es, Jerusalem sei zum Beten da, Haifa zum Arbeiten und Tel Aviv zum Feiern. Auch wenn alle israelischen Großstädte mittlerweile international bekannte Clubs und Bars besitzen, ist das Nachtleben von Tel Aviv immer noch etwas Besonderes. Die tolerante Stadt gilt als eine der gay-freundlichsten weltweit. Die LGBT-Szene hat mit zahlreichen Bars, darunter besonders extravagante wie die Tanzbar »Lima Lima«, die Clubszene erst zu der Attraktion gemacht, die sie heute ist.

»Wir freuen uns auf euren Gig heute Abend«, ruft eine junge Frau Shai Bakul zu, als dieser sich gerade verabschiedet und mir eine Einladung für das Konzert seiner Band im Lokal »The Zone« zusteckt. »Er macht gute Live-Musik«, meint Sarit Koblenzer, eine der Veranstalterinnen des Clubs. »HaEzor«, wie das Lokal auf Hebräisch heißt, bietet Live-Acts von Künstlern aus dem In- und Ausland. »Unsere Shows reichen von unterschiedlichen Musikkonzerten über Jam-Sessions, wo jeder spontan mitmachen darf, bis hin zu Tanz­vorführungen«, sagt Koblenzer.

Grundsätzlich geht man in Tel Aviv niemals vor 22 Uhr aus und in den Diskotheken wird es erst ab Mitternacht richtig gefeiert. Die meisten Bars sind bis zum Morgengrauen geöffnet. Das Mindestalter, um alkoholische Getränke ausgeschenkt zu bekommen, liegt in Israel bei 18 Jahren, zu manchen Veranstaltungen wird erst ab 25 Jahren Zutritt gewährt.
Vor dem Konzertbesuch möchte ich am Nachmittag zu der Rooftop-Party. Diese Open-Air-Veranstaltungen auf den Dächern von Tel Aviv sind legendär. Eyal Portugali, ein selbständiger Softwareentwickler, begrüßt mich dort. Er wohnt am Dizengoff-Platz; dort gibt es zwar laute Bars und Clubs, doch die Rooftop-Partys sind nur so halb legal und spätestens um 22 Uhr zu Ende.

Tel Aviv erkundet man – natürlich nur in nüchternem Zustand – am besten mit dem Rad oder einem der zahlreichen E-Bikes, die überall angemietet werden können. Die Stadt bietet auch zahlreiche Open-Air-Veranstaltungen. Unterwegs wechseln sich am Straßenrand weiße, meist zwei- oder dreistöckige Wohnhäuser im Bauhaus-Stil mit gläsernen Wolkenkratzern ab. Schon nach kurzer Fahrt erreichen wir das »Beit Romano«. Das wenig einladende Eingangstor täuscht, denn dahinter versteckt sich ein Hipster-Juwel. Vorbei an Graffiti und Toren im Innenhof gelangt man über eine Treppe hinauf zu einem der angesagtesten Restaurants der Stadt, dessen Wände Plakate von Bruce-Lee-Filmen schmücken. Da sich dort auch die Radiostation Teder FM befindet, gibt es hier phantastische DJ-Sets.

Gestärkt radeln wir weiter. Kurz bevor wir ins Herz von Tel Avivs Nachtleben vordringen – es schlägt zwischen dem Rothschild-Boulevard mit dem berühmten »Breakfast Club« und dem Harakevet-Viertel – fahren wir an kleinen Häusern vorbei, die durch ein Kabelgewirr miteinander verbunden sind. In einer heruntergekommenen Gasse erreichen wir den »Auerbach Record Saloon«, wo Eyal noch ein paar alte Platten kauft. »Dieser Ort ist viel mehr als nur ein Vinyl-Laden«, erzählt er. »Hier erfährt man alles. DJs und Musikliebhaber kommen hier zusammen.«

Dort treffen wir DJ Tal Cohen vom angesagten Club »The Block«, der uns ebenfalls auf seine Party einlädt. Am alten Busbahnhof von Tel Aviv gelegen, gilt er als der beste Ort, um sich in Electronic- oder Deep-House-Trance zu verlieren. Dort legen internationale Größen und die berühmten DJs Israels auf und sorgen für den unvergleichlichen Sound, der im Labyrinth des Busbahnhofs mit schwach beleuchteten Korridoren die Besucher in seinen Bann schlägt.

Als ich spät abends »The Zone« ­betrete, empfängt mich DJ Bakul: »Schön, dass du dich für unseren Club entschieden hast.« Angesteckt von der Feiermentalität, als ob es kein Morgen gäbe, kann auch die Sorge wegen Covid-19 meine Laune nicht verderben. »Das ist die richtige Einstellung,« sagt der Musiker, der seit dem Terroranschlag auf das »Dolphinarium« immer wieder seinen Spruch zitiert: »Wir werden niemals aufhören zu tanzen.«