Entgiftungsversuche
»Das Gesicht deines Feindes«, ein Band von Gesprächen mit Thomas Harlan, endet mit dem Satz: »Hitler war meine Mitgift.« Damit bringt Harlan die »Katastrophe« seiner Herkunft auf den Punkt; sein Erbe, das er als Last durch ein bewegtes Leben trug. Denn sein Vater war Veit Harlan, der Regisseur des antisemitischen Propagandafilms »Jud Süß« (1940) und ein enger Freund von Joseph Goebbels.
Diese Mitgift prägte Thomas Harlans Leben nicht nur, weil er Sohn eines prominenten Täters war, sondern auch, weil sie ihm in einem bestimmten Sinn »ein deutsches Leben« bescherte, wie es im Untertitel des 2005 erschienenen Gesprächsbandes heißt. Das brachte ihn dazu, sich an dem, was deutsch ist, abzuarbeiten – eine Verantwortung, der sich Harlan kompromisslos stellte. Alles, was er tat, lässt sich als Versuch verstehen, mit jener Mitgift umzugehen, sich zu entgiften. Sein politisches Wirken wie sein künstlerisches Schaffen drehten sich um die nationalsozialistischen Verbrechen und um das Scheitern ihrer juristischen wie gesellschaftlichen Aufarbeitung.
Thomas Harlans Umgang mit mit der historischen Schuld bestand darin, sich den Tätern zuzuwenden und ihre Taten aufzudecken.
Thomas Harlan studierte ab 1948 mit Gilles Deleuze und Michel Tournier in Paris und filmte mit Klaus Kinski 1952 in Israel – sie waren die ersten Deutschen, die dies taten, wenn auch illegal. Später recherchierte er mit finanzieller Unterstützung des reichen linken Verlegers Giangiacomo Feltrinelli in polnischen Archiven zu den Vernichtungslagern Sobibór, Bełżec, Kulmhof und Treblinka. In seinen Theaterstücken, Filmen und Romanen setzt er sich auf unerhört deutliche und im Nachkriegsdeutschland immens provozierende Art mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinander.
Die Produkte und Fragmente seiner schriftstellerischen und filmischen Projekte sind längst nicht alle erhalten, geschweige denn zugänglich. Das Filmmaterial, das er mit Kinski 1952 in Israel drehte, ist verschollen. Sein opus magnum, das Buch »Das Vierte Reich«, hat er nie fertiggestellt. Es sollte schonungslos die nationalsozialistischen Verbrechen aufarbeiten und die Bundesrepublik anklagen, die diese Verbrechen nicht nur verdrängte, sondern die Verantwortlichen weitestgehend unbehelligt ließ. Zur Veröffentlichung kamen der skandalträchtige Film »Wundkanal« sowie die Bücher »Rosa«, »Heldenfriedhof«, »Die Stadt Ys« und »Veit«.
Harlan schonte weder sich noch Deutschland, wenn es darum ging, sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Bei seinen Recherchen in Polen, wo er seit 1960 lebte, konzentrierte er sich auf die Taten und die Täter. Mit den gesammelten Beweisen arbeitete er der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen zu, über 2 000 Strafverfahren gegen Kriegsverbrecher konnten mit diesen Unterlagen in der Bundesrepublik eingeleitet werden. Damit machte er sich nicht überall Freunde, er wurde wegen Geheimnisverrats, Verleumdung und Landesverrats angeklagt. Aufgrund einer Klage des Altnazis Hans Globke wegen Landesverrats stellten die deutschen Behörden Harlan von 1964 bis 1974 keinen Reisepass aus, er konnte nicht mehr legal einreisen.
In dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer fand er einen väterlichen Freund - obwohl es Harlan nach eigener Aussage »wehtat«, dass dieser seinen Vater für dessen Propagandafilm »Jud Süß« vor Gericht gebracht hatte, und obwohl er »ein Problem« mit Bauers »Liebe zu Deutschland« hatte. An dieser Freundschaft zeigt sich Harlans Schonungslosigkeit und sein Mut zum Widerspruch. Er stellte sich der Aufgabe, sich zu entgiften, genauso unerbittlich, wie ihm die Vergeblichkeit dieser Versuche bewusst war. Auf seinem Sterbebett, nicht mehr in der Lage, die Finger zu bewegen, diktierte er den Text »Veit« über seinen Vater und dessen Sterben. Das Buch ist Anklage und verzweifelte Zuneigung zugleich. Beides steht unversöhnt nebeneinander.
Sein Vater, so Harlan, habe in »einem glücklichen Land gelebt«, da er sich seiner eigenen Schuld nicht bewusst gewesen sei und folglich kein Problem darin gesehen habe, dass die unverarbeitete historische Schuld die Bundesrepublik vergiftete. Den Sohn hingegen trieb sie um. In »Veit« dreht sich alles um diese Schuld. Thomas Harlans Umgang mit ihr bestand darin, sich den Tätern zuzuwenden und ihre Taten aufzudecken.
Auf der Berlinale 1985 wurde sein Film »Wundkanal« – zusammen mit seinem filmischen Kommentar »Notre Nazi« – gezeigt und löste einen Skandal aus. Harlan hatte mit Albert Filbert einen wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 6 800 Menschen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten SS-Obersturmbannführer als Schauspieler engagiert. Dieser spielte einen verurteilten NS-Täter während eines Verhörs – und damit mitunter sich selbst. Der Vater als Fixpunkt ist auch hier omnipräsent: In einer Szene sieht Filbert den Film »Immensee« von Veit Harlan und ist zu Tränen gerührt. Für sich genommen lässt sich »Wundkanal« kaum verstehen. Harlan ließ sich deshalb bei seinen Dreharbeiten filmen, woraus ein zweiter Film entstand: »Notre Nazi«, der die Entstehung seines Films dokumentiert und diesen erst zugänglich macht. Der Blick hinter die Kulissen zeigt den Umgang Thomas Harlans mit seinem Protagonisten. So statuiert er an dem Täter ein Exempel, indem er ihn am Set mit Angehörigen von Holocaust-Opfern konfrontiert. »Der Film ist ein Gewaltakt«, so Harlan. Er quält Filbert, indem er ihn immer wieder unangenehmen Verhörsituationen aussetzt, ihn zurück vor die Kamera zerrt, unerbittlich auf die Wahrheit pocht. Aber nicht nur für den Nazi waren die Dreharbeiten eine Qual: Die Stimmung am Set war derart gereizt, dass es zu Handgreiflichkeiten zwischen Filbert und Mitgliedern des Filmteams kam.
Im Roman »Heldenfriedhof« findet Harlans literarische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Tätern ihre anspruchsvollste Form. Der Text fokussiert auf die nationalsozialistischen Täter und ihre Taten. Der Roman handelt von der »Aktion Reinhardt«, vom Holocaust und dem KZ Risiera di San Sabba in der italienischen Stadt Triest. Darüber hinaus geht es um die Mittäter der Nachkriegszeit, die die Aufarbeitung der Vergangenheit sabotierten. Seitenlang listet Harlan etwa die Namen derer auf, die 1968 im Bundestag dem »Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten« zustimmten. So vertrackt der Name, so perfide der Zweck: Das Gesetz, das unauffällig mehrere rechtlichen Regelungen justierte, führte dazu, dass ein Großteil der nationalsozialistischen Verbrechen verjährte und zahlreiche anhängige Verfahren eingestellt wurden.
Der Roman sprengt die Form, die die Sprache zur Bewältigung der Wirklichkeit bereitstellt, durch grammatikalische Destruktion, Endlossätze, Überblendungen von Textteilen und überbordende dokumentarische Referenzen. Harlan reißt die Grenzen zwischen Realität und Darstellung, zwischen Faktizität und Fiktion radikaler ein als andere. Schon die Metareferenzen des Stoffs zeugen davon: In »Heldenfriedhof« geht es um einen Roman namens »Heldenfriedhof«, der von dem Suizid ehemaliger SS-Schergen auf einem Friedhof in Triest handelt. Gleichzeitig ereignen sich diese im Roman fiktiven Geschehnisse in der Realität der Romanhandlung. »Heldenfriedhof« zu lesen, ist eine Zumutung im besten Sinne. Zugemutet wird der Leserin und dem Leser, der deutschen Schuld ins Gesicht zu sehen – einer Schuld, die nicht allein auf die Taten selbst zu reduzieren ist, sondern darüber hinaus in der verfehlten Aufarbeitung liegt. Zugemutet wird eine unkonsumierbare, unversöhnliche Form, die diese Konfrontation zu einer schonungslosen, unerbittlichen Lektüre macht.
Deswegen ist es bedauerlich, dass Thomas Harlans Romane kaum rezipiert werden. Denn sie würden die deutsche Erinnerungsprosa konterkarieren, die die Vernichtung von Menschen häufig in Passivkonstruktionen wie »wurde deportiert« und »wurde ermordet« zum Ausdruck bringt, als ob diese Taten keine Urheber hätten. Unerbittlich verweist Harlan auf die Täter und Mittäter, die Kontinuität und Mutationen ihrer vergifteten Ideologie bis heute, und betont damit die aktive Seite: Im Nationalsozialismus mordeten Deutsche. Thomas Harlans zehnter Todestag am 16. Oktober sollte nicht nur Anlass sein, sein Wirken zu würdigen, sondern auch, dem deutschen Gedenken etwas zuzumuten.