Nichts zu feiern für Ägyptens Frauen
Irgendwas im Frühjahr – so muss einem Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Debatte über das Datum des Internationalen Frauentags vorgekommen sein. Sozialistinnen in Europa, den USA und der Sowjetunion brauchten Jahre, um sich auf den 8. März zu einigen. Fernab dieser Debatten legten Frauenrechtlerinnen in Ägypten ihren Frauentag auf einen nur leicht abweichenden Termin: Den 16. März. Begangen werden dort aber sowohl der 8. als auch der 16. März – je nach politischer Lage.
Die jeweiligen Erzählungen zum Ursprung des Frauentags könnten unterschiedlicher nicht sein: Während im russischen Petrograd am 8. März 1917 in einem der ärmsten Stadtviertel Arbeiterinnen, Ehefrauen von Soldaten und Bäuerinnen demonstrierten oder wahlweise in New York City am 8. März 1857 Textilarbeiterinnen streikten, stiegen in Kairo am 16. März 1919 Damen der Oberschicht aus ihren Kutschen vor einem Park im damals neuen Villenviertel Garden City.
Die Initiatorin dieser Demonstration, Huda Sha’arawi, schrieb in ihren Memoiren, Frauen aller Schichten seien zum unweit gelegenen Tahrir-Platz und vorbei am Ägyptischen Museum mitgelaufen. Spektakulär war aber vor allem die Teilnahme der Damen aus der höheren Gesellschaft. So zitiert Sha’arawis Enkelin und Biographin Sania Sharawi Lanfranchi einen Beobachter: »Die Ehefrauen aus den besten Familien marschierten durch die verschiedenen Viertel Kairos und riefen: ›Es lebe die Freiheit‹, während sich Menschenmengen auf den Bürgersteigen drängten, um ihnen zu applaudieren und sie anzufeuern, und Frauen sich aus Fenstern und von Balkonen lehnten und jubelten.«
»Die Ehefrauen aus den besten Familien marschierten durch die verschiedenen Viertel Kairos und riefen: ›Es lebe die Freiheit!‹« Sania Sharawi Lanfranchi über den 16. März 1919
So unterschiedlich die Frauendemonstrationen in Petrograd und Kairo waren, die man später als Ursprung des Frauentags festlegte, ihr Anlass war durchaus ähnlich. Der Erste Weltkrieg führte in Russland wie in Ägypten zu großen Entbehrungen und Wut auf die jeweiligen Machthaber. »Brot! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit dem Absolutismus!« riefen die Frauen in Petrograd. In Kairo richtete sich der Protest gegen die britische Kolonialmacht. Auch in Ägypten waren viele Männer zum Kriegsdienst eingezogen worden. Frauen mussten ihre Arbeit verrichten. Das betraf zwar nicht wohlhabende Damen wie Huda Sha’arawi, die als erste Feministin Ägyptens in die Geschichte eingegangen ist. Aber da sie sich wohltätig für Bildung und Gesundheit von Frauen der unteren Schichten engagierte, sah sie die Not.
Die »Damen des Harems«, wie man die Frauen der Oberschicht nannte, drängten schon länger auf Veränderungen, vor allem darauf, den Harem zu verlassen, der im Arabischen nicht mehrere Ehefrauen eines Mannes bezeichnet, sondern den separaten Frauenteil des Wohnhauses, dessen Fenster mit kunstvollen Holzschnitzereien vergittert jeden Blick nach innen verhindern, aber auch den nach außen beeinträchtigen.
Schon um die Jahrhundertwende hatten wohlhabende Frauen die ersten Frauenzeitschriften gegründet. Eine durchaus revolutionäre Entwicklung, da Mädchen traditionell allenfalls Lesen, nicht aber Schreiben beigebracht wurde, jedenfalls nicht in der als heilig erachteten arabischen Sprache. Huda Sha’arawi selbst hatte gegen dieses Verbot als Kind rebelliert und sich heimlich von ihrem Bruder unterrichten lassen. Gut beraten von ihrer Mutter, erkämpfte sie sich als 13jährige einen Ehevertrag, als sie mit ihrem 30 Jahre älteren Cousin verheiratet wurde. Der Vertrag ermöglichte es ihr, im Elternhaus wohnen zu bleiben und ihre Studien zu beenden.
Ihr Cousin und Mann schätzte später ihren Verstand und bezog sie in seine politischen Aktivitäten in der Unabhängigkeitsbewegung ein. Das bewog sie, im Jahr 1919 die Frauendemonstration zu organisieren. Eine Woche zuvor, am 8. März 1919, waren mehrere Führer der nationalistischen Wafd-Partei verhaftet worden. Diese war erst kurz zuvor entstanden, benannt nach der ägyptischen Delegation, die zur Pariser Friedenskonferenz gereist war, um dort Ägyptens Unabhängigkeit zu fordern (Wafd bedeutet Delegation).
Nach den Verhaftungen gab es täglich Proteste, die Polizei schoss in die Menge, es gab Tote, am 14. März kam dabei auch eine Frau ums Leben. Die Empörung darüber war groß. Huda Sha’arawi schloss, dass die britische Mandatsmacht keine Gewalt gegen eine reine Frauendemonstration anwenden würde. Also organisierte sie die Ehefrauen der Wafd-Mitglieder für den 16. März. Sie sollte recht behalten. Die Polizei wurde angewiesen, gegenüber den Damen größte Höflichkeit und Zurückhaltung walten zu lassen.
Kurz darauf gründete Sha’arawi die Frauensektion der Wafd-Partei, organisierte Boykotte und Benefizaktionen. Doch bald musste sie erkennen, dass die Partei nicht gewillt war, sich für die Rechte von Frauen einzusetzen. Bei den Verhandlungen mit den Briten wurde die Frauensektion nicht konsultiert, ein Wahlrecht für Frauen nicht eingefordert.
Im Jahr 1922 erklärte Großbritannien einseitig Ägypten für unabhängig und setzte den bisherigen Sultan Fuad als König ein. Die Briten blieben aber im Land, berieten den König und kontrollierten weiterhin den Suez-Kanal, die Außengrenzen, die Polizei, die Armee und die Eisenbahn.
Huda Sha’arawis Kampf für die Unabhängigkeit war vorbei. Im Januar 1923 gründete sie die Ägyptische Frauenunion, die erste unabhängige Frauenrechtsorganisation. Bis zum heutigen Tage berühmt ist Sha’arawi für ihre spektakuläre Aktion kurz darauf: Als sie von einer Frauenrechtskonferenz in Rom zurück nach Kairo kam, riss sie sich noch am Bahnhof gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen den Schleier vom Gesicht. Auch das soll um den 16. März herum geschehen sein.
Tausende politischer Aktivistinnen sitzen im Gefängnis, darunter viele wegen feministischer Äußerungen.
Huda Sha’arawi gilt heute als Heldin der ägyptischen Geschichte. In Kairo sind mindestens fünf Straßen nach ihr benannt. Dementsprechend begeht die Regierung den 16. März gern mit offiziellen Feierlichkeiten. Der Präsident hält eine Rede, in der er die herausragende Bedeutung der ägyptischen Frau für die Nation lobt und Gesetze zur Verbesserung der Gleichstellung ankündigt.
Darin gefällt sich besonders der seit 2014 regierende Präsident Abdel Fatah al-Sisi. Die Regierungsmedien behaupten, ein goldenes Zeitalter für Frauen sei mit ihm angebrochen. Angesichts der katastrophalen Menschenrechtsbilanz und der Talfahrt der Wirtschaft ist es wohl auch das Einzige, was Sisi vorzuweisen hat. Immerhin sitzen mit sechs Ministerinnen so viele Frauen im Kabinett wie nie zuvor, und die Anzahl der weiblichen Abgeordneten im Parlament hat sich seit 2012 verachtfacht. Er schreibt sich auch das 2014 erlassene Gesetz gegen sexuelle Belästigung gut – dafür allerdings hatten Feministinnen so vehement gekämpft, dass er kaum anders konnte, als es zu unterstützen. 2017 wurde ein Gesetz erlassen, das es unter Strafe stellt, Frauen ihr Erbe vorzuenthalten.
2021 wurde die Maximalstrafe für weibliche Genitalverstümmelung von sieben auf 20 Jahre heraufgesetzt; ein weitestgehend symbolischer Akt und eher kontraproduktiv. Ohne Strafverfolgung nützt die höhere Strafe wenig und hält im Zweifel Frauen von einer Anzeige ab: Wer riskiert schon, dass die eigenen Eltern 20 Jahre ins Gefängnis gehen? Im vergangenen Jahr war seine große Tat, Müttern zu erlauben, Bankkonten für ihre minderjährigen Kinder einzurichten.
Die Ägyptische Frauenunion – dieselbe, die Huda Sha’arawi 1923 gegründet hatte – forderte angesichts der frauenverachtenden Übergriffe des Militärs, die Feierlichkeiten am 16. März abzusagen.
Auf der anderen Seite sitzen Tausende politischer Aktivistinnen im Gefängnis, darunter viele wegen feministischer Äußerungen. Frauenrechtsorganisationen erschwert das Regime die Arbeit, indem es ihre Konten einfriert. Feministinnen, die außer Landes leben und daher noch ihre Meinung sagen können, sprechen von »feminist washing«. Sie sagen, die Lage von Frauen habe sich seit Sisis Herrschaft dramatisch verschlechtert.
Denn von der steigenden Armut seien besonders Frauen betroffen. Protest gegen Diskriminierung ist sowieso nicht mehr erlaubt. Seit Sisis Putsch gab es keine großen Frauendemonstrationen mehr. Die fanden früher auch in Ägypten am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, statt. Zuletzt 2013 zogen Zehntausende Frauen durch Kairo, um gegen sexuelle und häusliche Gewalt zu demonstrieren. 2012 richtete sich der Protest gegen sogenannte Jungfrauentests, die das Militär bei während der Proteste festgenommenen Frauen durchführte. Die Ägyptische Frauenunion – dieselbe, die Huda Sha’arawi 1923 gegründet hatte – forderte angesichts der frauenverachtenden Übergriffe des Militärs, die Feierlichkeiten am 16. März abzusagen.
2022 hat die Ägyptische Frauenunion nach 99 Jahren ihre Aktivitäten eingestellt. Ihre Website ist abgeschaltet, auf ihrem Facebook-Profil postet seitdem ein Anbieter für elektrische Zigaretten. Dieses Jahr gibt es in Ägypten am 16. März nichts zu feiern und vor allem niemanden, der es feiern könnte.