Lobbyismus kann auch eine Waffe der Schwächeren sein

Champions müssen nicht anklopfen

Lobbyismus ist eine der unvermeidlichen Formen, in denen Interessenkonflikte im parlamentarisch verfassten Kapitalismus ausgetragen werden. Linke Kritik beschränkt sich allzu oft auf moralische Empörung und Konzernschelte.

Sekt und Häppchen werden den Gästen des Neujahrsempfangs der Deutschen Bank am 11. Februar nicht geboten, denn das Ereignis findet erstmals digital statt. Doch als Gastrednerin konnte das Finanzinstitut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewinnen. So weiß alle Welt, dass die Bank mit dem Namen, der einen nationalen Repräsentationsanspruch suggeriert, wieder die volle Unterstützung der Bundesregierung besitzt.

Diese konnte die zahlreichen, größtenteils in den USA aufgedeckten Finanzskandale der Deutschen Bank nicht gänzlich ignorieren, die für Strafzahlungen und Vergleiche, die Gerichtsverfahren vermieden, bislang etwa 15 Milliarden US-Dollar aufwenden musste. Für einige Jahre ging man öffentlich auf Distanz zur Deutschen Bank, doch 2019 führte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) in seiner »Nationalen Industriestrategie« eben dieses Finanzinstitut als einen der »Champions« auf, als einen jener für die deutsche Wirtschaft unentbehrlichen Konzerne, die unterstützt und unbedingt vor einer Pleite bewahrt werden müssten. Im vorigen Jahr berichtete das Handelsblatt: »Merkel wünsche sich eine starke Deutsche Bank, heißt es von Vertrauten.«

Bedarf es angesichts der umfassenden staatlichen Unterstützung für »Champions« überhaupt noch des Lobbyismus? Ein wie geschmiert laufendes System zeichnet sich dadurch aus, dass wenig geschmiert werden muss. Lobbyisten, die an die Türen von Ab­geordneten klopfen, vertreten in der ­Regel randständige Branchen oder nichtunternehmerische Interessengruppen.

Es kann als sicher gelten, dass die Deutsche Bank niemanden zum Klinkenputzen in den Bundestag schicken musste, um zu erreichen, dass sich Regierung und Parlamentarier für die Bank einsetzen. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass die Bundesregierung ihre Emissäre die Klinken in US-Behörden und im Kongress putzen ließ, um größtmögliche Milde zu erwirken – die Deutsche Bank sollte zunächst weit höhere Summen zahlen, als letztlich fällig wurden.

»Der moderne Staat«, schrieb Friedrich Engels 1880, sei »der ideelle ­Gesamtkapitalist«, er müsse »die allgemeinen äußeren Bedingungen der ­kapitalistischen Produktionsweise« sichern »gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten«. Erstere stellen derzeit keine große Bedrohung dar, Letztere hingegen sind kaum noch kontrollierbar. Internationale Monopolkonzerne wie Amazon setzen eher die Bedingungen für die Geschäftstätigkeit als sich ihnen zu unterwerfen, sie bedürfen kaum noch staatlicher Protektion – von 2017 bis 2020, als Amazon-Gründer Jeff Bezos in US-Präsident Donald Trump einen persönlichen Feind hatte, stiegen die Einnahmen des Unternehmens um 20 bis 38 Prozent pro Jahr. Die deutschen »Champions« hingegen bedürfen staatlicher Protektion, diese aber ist so selbstverständlich, dass kaum jemand auf die Idee kommt, es könne eine ­Gegenleistung fällig werden.
Altmaier hat dieses korporatistische System nicht erfunden, sondern nur offener als üblich dargelegt.

Bereits 1965 bezeichnete der britische Ökonom ­Andrew Shonfield in seinem Buch »Modern Capitalism: The Changing Balance of Public and Private Power« Deutschland zugespitzt als »organisiertes privates Unternehmen«, das auf einer Verflechtung zwischen Managern, Politikern und Gewerkschaftsbürokraten basiert. Trotz der mit der sogenannten Globalisierung einhergehenden stärkeren internationalen Kapitalverflechtung ist dieses System in Kernbereichen der deutschen Wirtschaft noch intakt, insbesondere in der Automobilindustrie.

In deren Interesse macht die Bundesregierung immer wieder ihren Einfluss in der EU geltend, um strengere Abgasnormen zu verhindern. Als 2015 bekannt wurde, dass deutsche Autokonzerne die Einhaltung dieser Normen mit Softwaremanipulationen umgangen hatten, tat die Bundesregierung ihr Möglichstes, um diesen Unternehmen Straf- und Schadenersatzzahlungen zu ersparen. Schließlich würde deren Niedergang oder gar Bankrott erhebliche gesamtwirtschaftliche Schäden anrichten.
Das Motiv für die vorbehaltlose Unterstützung der Deutschen Bank scheint neben patriotischen Reflexen vor allem die – wirtschaftswissenschaftlich fragwürdige – Ansicht zu sein, deutsche Unternehmen bedürften einer deutschen Bank. Nach den Zwischenspielen mit Anshuman Jain als Co-Vorstandsvorsitzendem (2012 bis 2015) sowie John Cryan als Co-Vorstandsvorsitzendem (2015 bis 2016) und als alleinigem Vorstandsvorsitzenden (2016 bis 2018) ist die Bank unter dem Vorstandsvorsitzenden Christian Sewing wieder fest in deutscher Hand.

Bedarf es angesichts der umfassenden staatlichen Unterstützung für »Champions« überhaupt noch des Lobbyismus? Ein wie geschmiert laufendes System zeichnet sich dadurch aus, dass wenig geschmiert werden muss. Lobbyisten, die an die Türen von Ab­geordneten klopfen, vertreten in der ­Regel randständige Branchen oder nichtunternehmerische Interessengruppen. Den »Champions« dienen die meisten deutschen Politikerinnen und Politiker in vorauseilendem Gehorsam. Doch diese Unterstützung wird nicht automatisch wirksam. Damit Kontrolleure nicht so genau hinschauen, Staatsanwälte Mäßigung walten lassen und Gesetzestexte unklar genug formuliert werden, um Schlupflöcher zu lassen, muss immer wieder diskret Einfluss genommen werden.

Wenn in diesem Bereich des Lobbyismus Transparenz hergestellt werden kann, wird in der Regel – wie beim whistleblowing – nur bestätigt, was bereits auf der Hand lag. Aber es ist nützlich, wenn man es auch beweisen kann, denn das kann helfen, für bessere Luft in den Großstädten zu sorgen oder die Arzneimittelsicherheit zu erhöhen. Es ist jedoch illusionär, sich davon so etwas wie eine moralische Reinigung des Kapitalismus zu erhoffen, zumal auch die Lobbyismuskritik eine Lobby braucht. Man kann für die Einflussnahme sozialer Bewegungen einen weniger anrüchig und kämpferischer klingenden Begriff wählen, doch letztlich ist jeglicher Druck auf den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten, selbst bargaining by riot, Aufruhr als Verhandlungsmittel, eine Form des Lobbyismus.

Dessen muss sich niemand schämen. Politikerinnen und Politiker sind keine Marionetten der Konzerne, doch wenn es mit »der Wirtschaft« nicht gut läuft, sinken die Steuereinnahmen, während die Arbeitslosenzahlen und die Sozialausgaben steigen. Das Kapital übt allein durch seine Existenz und die Notwendigkeit weiterer Akkumulation Druck aus, soziale Bewegungen müssen sich da schon mehr anstrengen. Je weniger man sich dabei von moralischer Empörung – so berechtigt sie sein mag – leiten lässt und je klarer die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Widersprüche ist, desto größer sind die Erfolgschancen und desto ­geringer die Gefahr, sich einwickeln zu lassen.
So unterschrieben Anfang 2019 auch die Vertreter von Umweltschutzorga­nisationen wie Greenpeace den »Kohlekompromiss«, der der deutschen ­Kohleindustrie eine Bestandsgarantie bis 2038 gewährt – um danach zu be­tonen, dass das eigentlich viel zu spät sei. Insbesondere in der Klimapolitik aber hat der Lobbyismus sozialer Bewegungen Chancen, mehr zu erreichen.

Engels prägte den Begriff des ideellen Gesamtkapitalisten nur beiläufig, seine knappe Definition ist in einem zentralen Punkt aufgrund der historischen Entwicklung ergänzungsbedürftig. Es geht nicht allein um die Aufrechterhaltung, sondern auch um die Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, de facto vor allem um die Umverteilung von Subventionen. Bei dieser Weiterentwicklung ist es nicht zu vermeiden, dass zuvor einflussreiche Kapitalfraktionen geschädigt werden, und dies durchzusetzen, fällt dem politischen Personal sehr schwer, selbst bei der ökonomisch bereits marginalen Kohleindustrie. Die bedingungslose Unterstützung der deutschen Automobilindustrie wiederum hat es dieser ermöglicht, am Verbrennungsmotor festzuhalten und den Übergang zur Elektromobilität zurückzustellen. Das aber dürfte sich im globalen Konkurrenzkampf verheerend auswirken – übertriebene staatliche Fürsorge kann eine Branche ruinieren.

Gelänge es, die Autoindustrie zu ­ihrem Glück zu zwingen, würde das letztlich auch die Aktionäre erfreuen. In anderen Branchen, etwa bei der Förderung erneuerbarer Energien, ist es unvermeidlich, dass aufstrebende Kapitalfraktionen profitieren. Dennoch kann die Klimapolitik genutzt werden, um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zumindest ein wenig greifbarer werden zu lassen. Die Umstrukturierung der deutschen Autobranche beispielsweise ist nur mit Beteiligung der Gewerkschaften möglich, die sich dazu bequemen müssten, auf die Produktion Einfluss zu nehmen. Neue Formen der Energieerzeugung durchzusetzen, kann mit einer (Rück-)Überführung der Stromproduktion und des Leitungsnetzes in öffentliches Eigentum einhergehen. Um hier den notwendigen Druck zu erzeugen, müsste linker Lobbyismus allerdings über die Konzernkritik hinausgehen.

In manchen Fällen kann man auch auf den Rechtsstaat hoffen, allerdings nicht den deutschen. In den USA gilt corporate crime nicht grundsätzlich als Kavaliersdelikt; dort, und nicht etwa in Deutschland, wurde auch der Abgasbetrug von VW enthüllt. Sewing steht nun wegen seiner Rolle bei einer internen Untersuchung des im Ruch der Geldwäsche stehenden Russland-Geschäfts der Deutschen Bank unter ­Verdacht. Er könne »für die Aktivitäten seiner Bank strafrechtlich verantwortlich gemacht werden«, befand das Wirtschaftsmagazin Forbes im vergangenen Jahr.