Ein US-Abgeordneter hat vorgetäuscht, ein paralympischer Athlet zu sein

Der Schwindel mit dem Rennrollstuhl

Ein junger Abgeordneter der US-amerikanischen Republikaner inszenierte sich fälschlich als Paralympics-Anwärter. Dass ihm das lange Zeit gelang, ohne aufzufliegen, wirft kein gutes Licht auf den Sportjournalismus.

Das Video des im Rollstuhl sitzenden Madison Cawthorn sieht aus wie vie­le, die man in den sogenannten sozialen Medien anklicken kann: gefüh­lige Musik, eine tragische persönliche Geschichte und am Ende eine inspirierende Botschaft, im Sinne von: »Auch du kannst es schaffen.« Das Video trägt den Titel »Training for 2020 Paralympics« und zeigt in vielen Einstellungen Cawthorn, wie er seinen Bizeps präsentiert. Er hebt Gewichte, zieht sich an Stangen hoch und schießt mit einem Bogen. Cawthorn sitzt im Rollstuhl, seit einem Autounfall 2014 ist er von der Hüfte abwärts gelähmt. »Wir haben das Recht, glücklich zu werden«, sagt er am Schluss. »Und ich werde darum kämpfen, so sehr ich kann.« Nahaufnahme, Schnitt.

Doch Cawthorn hatte nie Aussicht darauf, an den Paralympics teilzunehmen. Er ist kein Athlet und war nie einer. Das hat die Journalistin Sara Luterman in einer Recherche für die Zeitschrift The Nation ermittelt. Das Video zeigt kein paralympisches Training, sondern eine gewöhnliche Routine aus dem Fitnessstudio. Cawthorn ist allerdings nicht bloß ein Social-Media-Aufschneider, sondern ein Politiker. Seit Beginn der neuen Legislaturperiode sitzt der 25jährige für die Republikaner im US-amerikanischen Repräsentantenhaus.

Es wäre problematisch, wenn lediglich Frauen über Frauensport schrieben und Männer über Männersport, Behinderte über Behindertensport und ehemalige Volleyballer über Volleyball, und jeder nicht weiter sähe als bis zur eigenen Nasenspitze.

Politik, Entertainment und me­diale Selbstdarstellung sind in den USA schon lange verflochten. Es geht um Symbole, Sprache und Image, kaum um Inhalte. Der aufgeregte linksliberale Jubel über schnulzige Gedichte bei Joe Bidens Amtseinführung und über die Hautfarbe und Herkunft der neuen Amtsträger und Amtsträgerinnen deutet darauf hin, dass sich daran wenig daran geändert hat. Die gefühlige Oberflächlichkeit ist ein mediales und kapitalistisches Phänomen, das es nicht erst seit dem Trumpismus gibt.

Da ist es nur folgerichtig, dass ein aufstrebender rechter Jungpolitiker, mit 25 Jahren der Jüngste im Kongress und ein Gefolgsmann Donald Trumps, beschließt, sein Handicap irgendwie zu vermarkten und für seinen politischen Erfolg einzusetzen. Die Journalistin Luterman, selbst behindert, schreibt auf Twitter, in ihrem Artikel über Cawthorn habe es ursprünglich kritisch darum gehen sollen, »wie er Behinderung diskursiv einsetzt«. Doch dann fiel ihr der Schwindel auf.

Nach eigenen Angaben will Cawthorn im Rennen über 400 Meter an den Paralympics teilnehmen, die zunächst für das vergangene Jahr geplant waren, nun aber vom 24. August bis zum 5. September in Tokio stattfinden sollen. Doch unter den paralympischen US-Sportlern und -Sportlerinnen kennt ihn niemand, und man kennt sich in diesem elitären Kreis gut. Cawthorn trainiert in keinem Club und an keinem College, hat nie an einem Qualifikationsrennen teilgenommen.

Er hat seine Geschichte nicht einmal besonders sorgfältig gestrickt. In der Szene, schreibt Luterman, sei er schon lange eine Witzfigur. Der paralympische US-Athlet Brian Sieman sagte ihr: »Meine Teamkameraden und ich haben untereinander seine Posts geteilt und einander geschrieben: Guck mal, was für einen Scheiß er diese Woche über die Paralympics erzählt. Seine Behauptungen waren so absurd, man musste sich einen Spaß aus ihnen machen.«

Der junge Republikaner machte bei seinen paralympischen Phantasien offensichtliche Fehler: Er nannte Qualifikationstermine, die es gar nicht gab, und behauptete, er fahre zu den US Open – zu einem Tennisturnier also. Da hatte er wohl die Sport­art verwechselt. Gut 500 000 Followern bei Instagram schien das nicht aufzufallen.

Das unterstreicht eine triste Tatsache, was die öffentliche Wahrnehmung des Behindertensports angeht. Luterman schreibt: »Viele äußerten sich frustriert, nicht nur über Cawthorn, sondern über die grundsätzliche Ignoranz bezüglich Behinderung und Sport. Hätte Cawthorn behauptet, für den 400-Meter-Lauf bei den Olympischen Sommerspielen zu trainieren, hätte sich die Presse über ihn totgelacht, aber niemand in den Medien hinterfragte seine Behauptung, für die Paralympics zu trainieren.« Und Sieman meint, niemandem sei klar, wie hart man dafür trainieren müsse. »Es ist Spitzensport. Man kann sich nicht einfach in einen Rennrollstuhl setzen. So läuft das nicht.«

Man hätte auch so darauf kommen können, dass etwas nicht stimmt. Denn Cawthorn hat in seiner kurzen Politikkarriere immer wieder Unwahrheiten über seine Biographie verbreitet. Er behauptete, wegen seiner Behinderung von der Marineakademie abgelehnt worden zu sein; es stellte sich jedoch heraus, dass dies schon vor seinem Unfall geschehen war. Er behauptete, ein erfolgreicher Immobilienmakler zu sein; doch seine Firma verbuchte kein Einkommen und er war der einzige Angestellte. Aber bei seiner Behauptung, an den Paralympics teilzunehmen, schaute lange niemand genauer nach.

Luterman hat das getan. In den sozialen Medien entstand daraufhin noch eine weitere Debatte. Der Journalist Eric Garcia schrieb: »Einer der Gründe, warum es wichtig ist, Menschen mit Behinderung in Redaktionen zu haben: Madison Cawthorn hat mehrere falsche Behauptungen gemacht, Journalisten und Journalistinnen ohne Behinderung haben sie für bare Münze genommen. Sara Luterman wusste, wen sie anrufen musste, und wie sie seine Lügen überprüfen konnte.«

Das ist richtig – einerseits. Luterman, die auf dem Gebiet persönliche Erfahrung mitbringt, ist weitaus kompetenter, kann Hintergründe einbringen, die Kollegen und Kolleginnen nicht bewusst sind, macht überhaupt auf das Thema aufmerksam. Gerade den Sportredaktionen auf beiden Seiten des Atlantiks fehlt es an solchen Perspektiven. In diesem Milieu ist es schon ein Wunder, wenn eine Frau oder jemand mit dunkler Hautfarbe am Tisch sitzt. Wer in Sportredaktionen Personen mit Handicap sucht, wird lange beschäftigt sein. Das schlägt sich in der Berichterstattung über sogenannten Behindertensport nieder: Sie findet meist einfach nicht statt. Und wo sie stattfindet, ist sie oft mitleidig oder infantilisierend. Es fehlt also in der Tat an Journalistinnen wie Luterman.

Zugleich aber steckt in dieser identitären Argumentation ein Problem. Denn das, was Garcia nennt – das Wissen, wen man anrufen muss und wie man Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft –, gehört schlicht zum journalistischen Handwerk. Es wäre für jede Redaktion machbar gewesen, paralympische Athletinnen oder Athleten anzurufen und die Geschichte zu überprüfen. Dafür braucht man kein Handicap, sondern nur einen Funken Interesse. Den aber gab es nicht.

Der Gedanke, man löse dieses Problem, indem man Menschen mit Behinderung in jede Redaktion setzt, ist seinerseits naiv und insinuiert ein merkwürdiges Verständnis von Journalismus. Denn es gehört zu diesem Beruf, gerade auch zu solchen Themen zu recherchieren, die einen nicht persönlich betreffen. Eine Redaktion ist kein Bürgerrat, in dem 50 Betroffenengruppen vertreten sein müssen. Es wäre problematisch, wenn lediglich Frauen über Frauensport schrieben und Männer über Männersport, Behinderte über Behindertensport und ehemalige Volleyballer über Volleyball, und jeder nicht weiter sähe als bis zur eigenen Nasenspitze.

Es braucht also einerseits viel mehr Sara Lutermans, andererseits aber auch die Erkenntnis, dass das allein nicht reicht; dass es fatal ist, Themen nur den betreffenden »communities« und das Schreiben nur direkt Betroffenen zu überlassen. Die Recherche über die Lügen des Madison Cawthorn fand große Resonanz – wenig überraschend, denn die Geschichte ist kurios und skandalös und die Person einigermaßen einflussreich. Die Paralympics, so sie denn stattfinden werden, dürften dagegen auf wenig Interesse stoßen. Auch das ist keine große Überraschung.