Im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Frédéric Thomas über die Krise in Haiti und darüber, warum Präsident Jovenel Moïse abtreten muss

»Die Lösung ist radikaler Wandel«

Seit über zwei Jahren revoltiert die haitianische Bevölkerung gegen Korruption, Misswirtschaft und Ungleichheit und fordert den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse. Dessen Regierung antwortet mit gewaltsamer Repression. Doch nicht zuletzt von den USA wird sie weiterhin gestützt.

Frédéric Thomas ist Politikwissenschaftler am Centre tricontinental (Cetri) in Louvain-la-Neuve in Belgien. Das Cetri wurde 1976 als unabhängiges Forschungs- und Studienzentrum mit Fokus auf Nord-Süd-Beziehungen, Entwicklung und den Folgen der Globalisierung in Afrika, Asien und Lateinamerika gegründet. Zuletzt erschien von Frédéric Thomas gemeinsam mit François Polet das Buch »Soulèvements populaires« über Aufstände im globalen Süden. Er schreibt immer wieder Beiträge über Haiti, beispielsweise für die französische Tageszeitung »Le Monde«.
 

In einem Artikel in der französischen Tageszeitung Le Monde war kürzlich zu lesen, Haiti sei ein Land »im freien Fall«. Kann dieses Land denn überhaupt noch fallen?

Das ist leider eine berechtigte Frage. Haiti ist das ärmste Land Lateinamerikas. Sieht man sich die Zahlen von vor 50 oder 60 Jahren an, zeigt sich, dass eine systematische Verarmung stattgefunden hat. Das liegt auch daran, dass Haiti sehr empfindlich von den Folgen des Klimawandels getroffen wird. Es ist Wirbelstürmen ausgeliefert, die Insel ist stark entwaldet. Es ist jedoch vor ­allem ein Land, in dem es nahezu keine öffentlichen Investitionen in Gesundheit, Bildung und Umwelt gibt. Es ist ökonomisch und politisch sehr abhängig, insbesondere von den Vereinigten Staaten. Schließlich ist es auch ein Land in einer schweren institutionellen Krise. Der Staat ist auf allen Ebenen sehr schwach. All diese Faktoren sorgen dafür, dass sich das Land in immer wiederkehrenden Krisen befindet. Unglücklicherweise gibt es immer Möglichkeiten, noch tiefer zu fallen. Die Lösung ist ein fundamentaler und radikaler Wandel, oder es kommt zu noch Schlimmerem.

Anfang Februar hat der Präsident Haitis, Jovenel Moïse, behauptet, es habe einen Putschversuch gegeben, und ließ über 20 Personen festnehmen. Wie ist die Lage in Haiti?

Die jüngste Krise begann im Juli 2018. Haiti kauft sein Öl von den USA und subventioniert es, damit es für die Bevölkerung nicht zu teuer ist. Interna­tionale Institutionen wie der IWF hatten gefordert, die Subventionen abzuschaffen oder wenigstens zu reduzieren. Die Regierung hat das versucht, was zu einem zweitägigen Aufstand geführt hat. Das ganze Land war blockiert, bis die Regierung die Pläne zurückzog. Zwei Monate später gab es erneut riesige Proteste, diesmal gegen einen Korruptionsskandal im Zusammenhang mit Petrocaribe (das von Venezuela angeführte Abkommen zur Versorgung karibischer Staaten mit Öl zum Vorzugspreis, Anm. d. Red.). Über eine Milliarde Euro wurden da unterschlagen. Die Revolte war 2018 und 2019 sehr groß und dauert immer noch an. Die Regierung reagierte darauf nur mit Repression und Kriminalisierung.

Der jüngste angebliche Putschversuch war zum Beispiel ein Vorwand, um Beamte verhaften zu lassen, die der Opposition nahestehen. Dabei greift die Regierung sogar auf bewaffnete Gangs zurück, die es inzwischen an vielen Orten gibt und die Massaker verüben. Die Korruption bleibt straffrei, bei Massakern wird nicht ermittelt und seit einem Jahr ist das Mandat aller Abgeordneten und eines Drittels der Senatoren abgelaufen. Der Präsident regiert per Dekret. Seit etwa einem halben Jahr wächst zudem die Unsicherheit, vor allem durch eine Welle von Entführungen, die längst alle Bevölkerungsschichten trifft, nicht mehr nur die Reichen.

Moïses Gegner behaupten, dieser sei inzwischen illegal im Amt. ­Warum?

Die Regierung interpretiert die Verfassung eigenwillig. In dieser heißt es, das Mandat des Präsidenten beginnt am 7. Februar nach den Wahlen – unabhängig davon, wann dieser konkret das Amt antritt. Die jüngsten Wahlen haben Ende 2015 begonnen, wurden ­jedoch unterbrochen und erst im November 2016 fortgeführt. Das Mandat hat also am 7. Februar 2016 begonnen, aber der Präsident sagt, es habe 2017 begonnen, als er sein Amt antrat. Als es um das Ende des Mandats der Abgeordneten und Senatoren ging, hat er noch anders – verfassungsgemäß – gerechnet. Da die Amtszeit fünf Jahre dauert, kann er so ein Jahr länger im Amt bleiben. In dieser Zeit will er ein Verfassungsreferendum durchführen und Wahlen organisieren. Nach Ansicht der Opposition ist er schlichtweg seit dem 8. Februar nicht mehr Präsident Haitis.

Was tun die Haitianer, um sich ­diesem Vorgehen zu widersetzen?

Sie haben bis zum Schluss gehofft, dass Moïse sein Amt räumt oder von der internationalen Gemeinschaft dazu bewegt wird. Die bisherige Strategie der haitianischen sozialen Organisationen war vor allem, Straßenproteste zu organisieren. Doch die Angst vor Repression ist groß. Außerdem ist die Armut so gravierend, dass viele Menschen einfach damit beschäftigt sind, irgendwie durchzukommen. Zugleich versucht die Opposition, möglichst viele Akteure zusammenzubringen: Parteien, Gewerkschaften, soziale Organisationen und internationale Unterstützer. Aber die Haitianer merken, dass trotz Betrug, trotz Massakern, trotz Autoritarismus, trotz Straflosigkeit, trotz Verfassungsbruch, dieser Präsident von der internationalen Gemeinschaft gestützt wird. Sie fragen sich also: Was soll denn noch passieren, damit die internationale Unterstützung für diesen Präsidenten aufhört?

Warum halten andere Länder an ­ihrer Unterstützung des Präsidenten fest?

Die USA unterstützen die Regierung, weil sie die Kontrolle über ihren Hinterhof behalten wollen. Die USA würden gewiss lieber eine Regierung sehen, die etwas weniger korrupt und nicht in Massaker verwickelt ist. Aber sie ziehen die jetzige einer nationalistischen oder sozialistischen Regierung – wie in Venezuela oder Kuba – vor. Die Hoffnung der Haitianer, dass sich das unter Joe Biden ändern könnte, hat sich bisher nicht erfüllt. Die anderen Akteure reihen sich da leider ein – entweder weil sie direkt abhängig von den USA oder sozusagen deren verkleidete Sprecher sind, wie die Vereinten Nationen, oder weil sie sich, wie die EU, nicht trauen, den USA zu widersprechen. Man erkennt einfach an, dass Haiti in der Einflusssphäre der USA liegt, und schickt lediglich etwas humanitäre Hilfe, um die Schäden zu beheben, die diese Politik anrichtet.

Aber warum interessieren sich die USA überhaupt für Haiti, ein ruiniertes Land?

Ja, Haiti hat keine große geostrategische Relevanz. Höchstens indirekt, weil es darum geht, eine stabile Reihe von Ländern in der Region zu haben, die die unnachgiebige Linie der USA gegenüber Venezuela mittragen. Außerdem liegt Miami nur eineinhalb Flugstunden von Haiti entfernt, man fürchtet also Migranten. Und obwohl Haiti klein und sehr arm ist, sind auch wirtschaftliche Interessen im Spiel. Haiti ist der drittgrößte Empfänger von Reisexporten der USA. Das spielt durchaus eine Rolle.

Sie haben Haiti als »Republik der NGOs« bezeichnet, vor allem als Folge des Erdbebens vor elf Jahren. Was meinen Sie damit?

Es gibt inzwischen weniger NGOs als früher, aber das Problem der Haitianer ist weiterhin, dass die internationalen Akteure sie eines Teils ihrer Souveränität beraubt haben. Es gibt eine Art ­Privatisierung mittels NGOs. Das heißt, die Regierung konzentriert sich auf ­etwas Wirtschaftspolitik, und alles, was Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik ist, wird den NGOs überlassen. Haitis staatliches Budget für ­Soziales ist eines der niedrigsten der Karibik. Zugleich verfügen die NGOs über mehr Geld als früher. Sie müssen auf eine katastrophale Situation reagieren, die nicht zuletzt die Politik jener internationaler Akteure hervor­gerufen hat, die ihre größten Geldgeber sind. Es ist absurd.

Sollten die NGOs sich also aus Haiti zurückziehen?

Nein, sie sollten ihre Arbeitsweise überdenken und sich weigern, diese Rolle einzunehmen. Sie sollten auf ­haitianische Organisationen hören. Diese fordern von ihnen nicht, dass sie ihre Probleme lösen, sondern dass man ihnen, den Haitianern, gestattet, ihre Probleme zu lösen, und dass man sie dabei begleitet. Und das schaffen die meisten NGOs nicht. Sie denken und arbeiten anstelle der Haitianer, nicht mit ihnen. Das muss aufhören. Und ­damit das aufhören kann, müssen sie sich politisieren und klar gegenüber den internationalen Akteuren Stellung beziehen.

Sie sagten, die Lage in Haiti sei heutzutage schlimmer als vor 60 Jahren. Was ist geschehen?

Das liegt an verschiedenen Phänomenen. Bis in die siebziger, achtziger Jahre hinein hing Haiti stark vom Kaffee ab. Doch der Kaffeepreis ist eingebrochen. Die Diktatur Jean-Claude Duvaliers (1971–1986) hat nichts in die Wirtschaft investiert, sondern alles Geld eingesteckt, phänomenale Summen. Es hat also keine Modernisierung stattgefunden. Die Landwirtschaft, von der die Bevölkerung abhing, ist verarmt. Das wiederum liegt erstens an der Konzentration von Landbesitz und der Zerstückelung des übrigen Landes. Der Boden ist ausgelaugt, die Insel entwaldet und es fehlt an Mitteln, die Felder zu bestellen. Zweitens liegt es an der Liberalisierung in den Achtzigern und Neunzigern. Alle Zölle wurden gesenkt, um landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel zu importieren. Man dachte, dass die Bauern Haitis in die Industrie gehen würden und so ein wirtschaftlicher Boom entstehen könnte. Doch das Gegenteil ist passiert: Sie sind einfach verarmt und funktionieren höchstens als verlängerte Werkbank der USA. Sie sind von Nahrungsmittelimporten abhängig und der Markt ist extrem konzentriert und wird von derselben Elite wie zur Zeit der Diktatur beherrscht.

Welchen Ausweg gibt es für Haiti?

Das Motto der Opposition ist jetzt »Wandel und Bruch«. Moïse muss abtreten und dann muss es einen Bruch mit den politischen Praktiken der Korruption und der Straflosigkeit geben, damit sich nicht dasselbe Schema wiederholt. Diese Transition müsste auch zum Ziel haben, die öffentlichen Institutionen zu stärken. Außerdem müsste die ökonomische Logik umgedreht werden, also die lokale Produktion gefördert, das Land weniger abhängig ­gemacht werden, damit die Priorität auf Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik gelegt werden kann. Das ist die Strategie für einen Ausweg. Aber der erste Schritt ist, dass Jovenel Moïse weg muss.