Trotz der Bildung einer neuen Regierung geht der Machtkampf in Libyen weiter

Der zweite Versuch

In Libyen wurde unter Vermittlung der UN eine neue »Regierung der nationalen Einheit« gebildet. An der Teilung des Landes und der Milizenherrschaft ändert das nichts.

Die Situation in Libyen erscheint besser als in den vergangenen Jahren. Der Waffenstillstand wird eingehalten, es gibt seit Anfang Februar eine mit Vermittlung der UN gebildete »Regierung der nationalen Einheit« (GNU) und Ende des Jahres sollen Wahlen stattfinden. Doch die Probleme sind nicht verschwunden. Am Donnerstag voriger Woche hätte Ministerpräsident Abdul Hamid Mohammed Dbeiba sein Kabinett vorstellen müssen, doch die Verteilung der Ministerposten soll zunächst im Parlament debattiert werden. Die Öffentlichkeit erfuhr nur, dass »Spezialisten« unter Berücksichtigung der »regionalen Balance« ernannt werden sollen. Die Machtverteilung zwischen den politischen Fraktionen und Bürgerkriegsparteien muss offenbar noch ausgehandelt werden, damit die »nationale Einheit« nicht gleich wieder zerfällt.

75 Delegierte des Libyan Political Dialogue Forum hatten am 5. Februar in einem Konferenzsaal in Genf über eine neue Einheitsregierung abgestimmt. Vier Listen standen zur Wahl, sie benannten die jeweiligen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten und drei Posten im Präsidialrat, einem Exekutivorgan Libyens. Nötig geworden war die Wahl aufgrund des Rücktritts des Ministerpräsidenten Fayez al-Sarraj nach Protesten gegen schlechter werdende Lebensbedingungen im vergangenen Jahr.

Davon, wo die neue Regierung residieren wird, hängt ab, von welchen Milizen, ausländischen Söldnern und Truppen sie abhängig sein wird.

Das Mandat von dessen umstrittener Regierung der nationalen Übereinkunft (GNA) war bereits2017 ausgelaufen. Sie war im Rahmen einer ähnlichen UN-Initiative gebildet worden und sollte einen Übergangsprozess leiten, um das Land zu einigen. Dies misslang. Die GNA kontrollierte weite Gebiete im Westen, war aber nie in der Lage, die Macht der sogenannten Libyschen Nationalarmee (LNA) unter General Khalifa Haftar zu brechen, der im Osten eine Gegenregierung gebildet hatte.
Die militärische Macht beider Seiten stützt sich auf Milizen sowie ausländische Hilfe. Die GNA wird von der Türkei und Katar unterstützt, Haftar von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Russland, zumindest indirekt auch von Frankreich – und einem von US-Medien zitierten UN-Bericht zufolge von Erik Prince, einem Verbündeten des ehemaligen Präsidenten Donald Trump (siehe Infokasten).

Nun soll die GNU einen Übergangsprozess leiten und vor allem die Neuwahl des libyschen Parlaments vorbereiten. Diese soll am 24. Dezember stattfinden, so dass das Mandat der GNU offiziell auf nicht einmal ein Jahr befristet ist. Es wurde ein Machtkampf in Genf zwischen Milizenführern und Politikern, aber auch deren internationalen Unterstützern erwartet, denn die Organisation der Wahlen bietet die Möglichkeit, diese zu manipulieren. Daher wurde vor der Regierungsbildung intensiv darüber gestritten, wer als stimmberechtigter Delegierter zum Treffen nach Genf reisen sollte. Die Delegierten wurden letztlich unter der Leitung der UN-Sondergesandten Stephanie Turco Williams ausgewählt, sie sollten die diversen Bevölkerungsgruppen, politischen Fraktionen und Regionen repräsentieren; knapp die Hälfte waren Parlamentarier. Demokratisch legitimiert waren die Delegierten also nur bedingt.

Die besten Chancen schien die Liste des Parlamentspräsidenten Aguila Saleh Issa zu haben, der das Amt des Ministerpräsidenten anstrebte. Er unterstützte jahrelang die von der LNA gestützte Gegenregierung im Osten; selbst deren Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Tripolis rechtfertigte er, trotz schwerer Kriegsverbrechen während des Vormarsches. Seit dem Scheitern dieser Offen­sive im Juni vorigen Jahres begann Saleh jedoch eine internationale PR-Offensive. Seitdem stellte er sich als zivile Alternative zum Anspruch Haftars auf diktatorische Alleinherrschaft dar. Für den Vorsitz von Salehs dreiköpfigem Präsidialrat trat der Milizenführer Fathi Bashagha aus der westlichen Küstenstadt Misrata an, der in al-Sarrajs GNA viel Einfluss verloren hatte und als Opportunist gilt. Die internationalen Unterstützer der LNA suchten ihren Einfluss zu nutzen, um Aguila Saleh Issa, Sprecher des Parlaments in Tobruk im Osten des Landes, zu diesem Posten zu verhelfen.

Im ersten Wahlgang der Genfer Delegierten gewann Issas Liste erwartungsgemäß die relative Mehrheit, doch im zweiten Wahlgang erhielt sie nur 34 der 73 abgegebenen Stimmen. 39 Delegierte votierten für den politisch weitgehend unbekannten Unternehmer Abdul Hamid Dbeiba als Ministerpräsidenten, dessen Liste es mit etwas Glück in die zweite Wahlrunde geschafft hatte. Dies sehen Libyen-Experten eher als eine Protestwahl an. Der Unternehmer aus der Hafenstadt Misrata stellt sich als außerhalb der Milizenpolitik stehenden Technokraten dar, seine Familie ist jedoch kein unbeschriebenes Blatt. Unter der Diktatur Muammar al-Ga­ddafis war seine Familie vor allem dank seines Bruders Ali in die korrupten Seilschaften des Regimes eingebunden und dadurch reich geworden. 2011 wechselten die Brüder jedoch rechtzeitig die Seiten und finanzierten Milizen in Misrata. Vorsitzender des Präsidialrats wird Mohammed al-Menfi. Er war als Botschafter der GNA infolge des türkisch-griechischen Erdgasstreits aus Athen ausgewiesen worden.

Die Reaktionen kamen prompt. Ägypten versucht in Libyen vor allem, die Muslimbruderschaft in Schach zu halten; regimenahe Fernsehmoderatoren Ägyptens schäumten zunächst, die libysche Muslimbruderschaft habe die Wahl gewonnen. Zu dieser unterhält Dbeiba Verbindungen. Die Bruderschaft hatte sich jedoch abgesichert und durch unterschiedliche Gruppen der Muslimbrüder beide Listen unterstützen lassen. Das Manöver hatte Erfolg. Mitte Februar sagte Präsident Abd al-Fattah al-Sisi der GNU Unterstützung zu, ebenso wie andere Verbündete Haftars.

Doch wird die Einigkeit vermutlich nicht andauern. Davon, wo die GNU residieren wird, hängt ab, von welchen Milizen, ausländischen Söldnern und Truppen sie abhängig sein wird. Dbeiba will in der Hauptstadt Tripolis regieren. In dieser herrscht ein Kartell aus vier mächtigen Milizen, das von der Türkei militärisch unterstützt wird. Tripolis war auch schon der Sitz der GNA. Aguilah Saleh Issa hätte im Fall eines Wahlsiegs im zentral gelegenen Sirte residiert, das von der LNA kontrolliert wird. Fathi Bashaghas Miliz hätte in diesem Falle dann womöglich gar die Küstenstadt Misrata der Einflusssphäre der Türkei entreißen können – dort hat die Türkei eine Küstenbasis aufgebaut, die nun als Brückenkopf für Waffenlieferungen dient.

Dementsprechend dürfte vor allem die Türkei mit dem Ausgang der Wahl zufrieden sein, die im Dezember das Man­dat der in Libyen eingesetzten türkischen Truppen um 18 Monate verlängert hat. Das erste Interview mit einem ausländischen Medium gab Dbeiba prompt der türkischen staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. In diesem bezeichnete er die Türkei als »unseren Verbündeten, Freund und Bruder«.

Derzeit versuchen Haftar und seine ausländischen Unterstützer offenbar, eine aus ihrer Sicht angemessene Repräsentation ihrer Interessen im Kabinett zu sichern – oder sie wollen die Verhandlungen zur Regierungsbildung scheitern lassen, um die Legitimität der GNU zu untergraben. Selbst wenn es zu einer Einigung kommen sollte, bleibt unklar, wie angesichts der Zweiteilung des Landes in Interessensphären konkurrierender Bündnisse von ausländischen Mächten und libyschen Milizen allgemeine freie Wahlen stattfinden könnten. Zwar hält der Waffenstillstand, doch verletzen die Türkei, die Emirate und Russland nach wie vor das UN-Waffenembargo und bereiten sich auf eine mögliche erneute Eskalation des Kriegs vor. Zudem halten sich weiterhin Tausende Söldner in türkischen und russischen Diensten in Libyen auf, Kampfjets, Drohnen und schweres Gerät stehen bereit, um die Einflusssphären abzusichern.

Da keine Seite einen militärischen Sieg erzwingen konnte, herrscht derzeit ein Gleichgewicht des Schreckens, überdies erschwert die Covid-19-Pandemie Kampfhandlungen. Doch die angestrebte Einheit ist noch immer in weiter Ferne.

 

Waffen und Visionen

Illegale Waffenlieferungen, der Einsatz von Söldnern, Attentatspläne – ein vertraulicher UN-Bericht, der unter anderem der New York Times vorliegt, erhebt schwere Vorwürfe gegen Erik Prince und belegt sie mit zahlreichen Dokumenten. Prince, ein erfahrener Söldnerunternehmer, Unterstützer des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und Bruder von dessen Bildungsministerin Betsy DeVos, soll 2019 eine Operation geleitet haben, um dem ostlibyschen Machthaber Khalifa Haftar militärische Unterstützung im Wert von 80 Millionen US-Dollar zu verschaffen. Geplant gewesen sei auch die Ermordung feindlicher Milizenführer, von denen zwei die irische Staatsbürgerschaft besitzen. Das Unterfangen scheiterte offenbar zum Teil, da Prince die versprochenen Kampfhubschrauber nicht liefern konnte, doch verschaffte es Haftar ein Cyberwar-Team und Kampfflugzeuge.

Der UN-Bericht lässt Princes Verbindungen zum russischen Söldnerunternehmen Wagner unerwähnt, für die US-Medien Indizien fanden, und nennt auch keinen Finanzier – nach Ansicht von Experten waren wahrscheinlich die Vereinigten Arabischen Emirate der Geldgeber. Dass Prince zumindest im Einvernehmen mit Trump handelte, der kurz vor Beginn der Operation davon sprach, er habe mit »Feldmarschall Haftar« eine »gemeinsame Vision vom Übergang Libyens zu einem stabilen, demokratischen politischen System«, ist wahrscheinlich, aber nicht nachgewiesen. js