Das neue Album von Xiu Xiu

Weich bleiben

Die Band Xiu Xiu zelebriert seit Jahren die Misanthropie. Auf ihrem neuen Album »Oh No« klingt sie hingegen fast schon versöhnlich.

Es gibt ein beliebtes Memeformat auf Twitter. »Auf Twitter sind alle Ende zwanzig und bisexuell« wäre eine Variation davon, oder auch: »Auf Twitter sind alle aus NRW und haben eine Identitätskrise«; eine weitere Variante klingt so: »Auf Twitter sind alle gegen den Klimawandel, aber wollen, dass die Menschheit ausstirbt.« Das sind ­ironisch verallgemeinernde Aussagen über die aktuellsten Selbstdarstellungstrends auf einer Plattform, die verallgemeinernde Aussagen mehr als alles andere mit Resonanz belohnt. Zugleich ist Twitter vielleicht die Social-Media-Plattform, auf der User am schnellsten bereit sind, ihre Krisen und Ängste mit anderen zu teilen. Und wer das vergangene Jahr hauptsächlich auf Twitter verbracht hat, wird sagen müssen: Dort sind alle einsam und brechen regelmäßig komplett zusammen.

In dieser Zeit erscheint nun ein neues Album von Xiu Xiu – eines dieser musikalischen Quasi-ein-Mensch-Projekte, in diesem Fall Jamie Stewart, der seit 2002 mit wechselnden Mitmusikern den öffentlichen Zusammenbruch zelebriert. Xiu Xiu haben in gewisser Weise viel von dem vorweggenommen, was später unter dem politischen Motto »radical softness« bekannt wurde und was die Thematisierung von mental health mit sich brachte: eine radikale Innenschau mit Blick auf all die Verletzungen, die ein Leben mit sich bringt. Das war und ist oft schwer auszuhalten, sowohl was den Sound als auch was den Inhalt angeht.

Die Alben von Xiu Xiu prägt auf der klanglichen Ebene Stewarts Stimme, die zwischen eindringlichem Flüstern, hohem Falsettgesang und panischem Schreien pendelt und selbst in den ruhigeren Passagen ohne jede Relativierung deutlich macht: Es ist nicht okay, in dieser Welt leben zu müssen. Selbsthass, Welthass, allgemein menschlicher Niedergang und schambehaftetes Trotzdem-lieben-Wollen korrespondieren mit einer musikalischen Ästhetik, die Synthiepop der Achtziger, Noise, Einsprengsel aus Kammermusik und gelegentlich sogar HipHop zusammenführt.

Auch die Inszenierung nimmt die Kaputtheit auf. Im Musikvideo zu »Dear God, I Hate Myself«, dem Titelsong des 2010 veröffentlichten siebten Albums von Xiu Xiu, kotzt sich das Bandmitglied Angela Seo die Seele aus dem Leib, während Stewart neben ihr sitzt und Schokolade isst. In einem anderen Video werden Schnipsel über entführte Kinder aus Nachrichtensendungen aneinandergereiht. Man braucht nicht lang zu suchen, um die menschliche Hässlichkeit zu finden.

Hoffnung entsteht höchstens noch aus dem Spiel mit den Geschlechterrollen: »I like my neighborhood / I like my gun / Drive in my little car / I am your girl and I will protect you«, lautet der Refrain von »Sad Pony Guer­rilla Girl« vom 2003 erschienenen zweiten Album »A Promise«. Sex wiederum ist zwar in den Texten omnipräsent, hat aber nichts Befreiendes: Die Zeile »Cremate me after you cum on my lips« aus dem Song ­»Fabulous Muscles«, Titeltrack des 2004 erschienenen dritten Albums von Xiu Xiu, repräsentiert die Bilderwelt sexueller Phantasie im Schaffen der Band recht gut. In einem Song gehen Zärtlichkeit und Aggression sogar ohne Probleme ineinander über: Im Auftaktsong des Albums »Forget« aus dem Jahr 2017 schmachtete Stewart sehnsuchtsvoll die Worte »Just for once come to me« zu wavigen Synthies, um in derselben fragilen Tonlage »Kill the hippies / Kill yourself« zu singen, ehe das Lied als Rap endet. Bei Xiu Xiu wird der Gegenentwurf zur ironischen Coolness mit so viel Pathos zelebriert, dass es wehtut.

Was bleibt? Das kontinuierliche, radikale Abarbeiten an der Welt und ihren Bewohnern, die einem eine ganze Menge zumuten. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand das Konzept, dass die Welt so schlecht ist, dass Musik schmerzen muss, im 2019 erschienenen Album »Girl with Basket of Fruit«, das mit monotonem ­Getrommel und brachialem Noise-Gedröhne die Welt als Schrottplatz zeigte.

Und jetzt erscheint »On No«, das schon in seiner Struktur als Duett­album einen Gegenentwurf zum erratischen, monologischen Vorgänger »Forget« darstellt. Passend dazu gab Stewart vor der Veröffentlichung öffentlichkeitswirksam bekannt, er hasse mittlerweile nicht mehr ganz so viele Menschen. Tatsächlich klingt »Oh No« sanfter, vielleicht sogar (wenn man das von einem Xiu-Xiu-Album sagen kann) Menschen zugewandter und tröstlicher. Misanthropie passt schlecht in die Zeit der Covid-19-Pandemie, in der sich menschliche Kontakte für die meisten auf ein Minimum reduzieren.

Stattdessen: Freundschaft – oder was Freundschaft eben bedeuten kann. »As you know I’ve been called a liar / And so I know what a lying person does / But I’m also a friend, unlike you / And know what a friend will do too«, singen Stewart und die Gastmusikerin Haley Fohr im Refrain des Songs »The Grifters«. Mehr ist wahrscheinlich nicht drin: Trotz zwischenmenschlicher Entfremdung und Distanz darauf zu bestehen, dass Menschen einander Freunde sein können – das ist in vielerlei Hinsicht schön, selbst wenn Freundschaft hier bedeutet, zusammen traurig zu sein.

Dennoch gibt es genug Dissonanzen, wie in »It Bothers Me All the Time« (zusammen mit Jonathan Meiburg von Shearwater), der mit drohenden, hochgepeitschten Synthies und arhythmischen 8-Bit-Schnipseln aufwartet. Doch insgesamt klingt »Oh No« eher wie ein sehnsüchtig erwartetes Treffen mit alten Bekannten. In Krisenzeiten rückt die bubble zusammen.

Es war für Jamie Stewart aber vielleicht nach »Girl with Basket of Fruits« auch nicht mehr so ohne weiteres möglich, den Weg klangästhetischer Radikalisierung weiterzugehen. Ein User kommentierte auf Youtube das Musikvideo zur Single-Auskopplung »A Bottle of Rum«, er könne nicht glauben, dass es sich hier um dieselbe Band handele, die 2019 noch einen Song wie »Mary Turner Mary Turner« geschrieben habe – einen kaum anhörbaren Klumpen aus Störgeräuschen und Geschrei, der einen Lynchmord thematisiert.

Verkannt wird bei solchen Klagen über die angebliche Glättung des Sounds von Xiu Xiu, dass die Band immer beides zeigte: den Hass auf die Welt und die eigene Verletzlichkeit und Bedürftigkeit in eben jener Welt. Der Sound pendelte daher konsequent zwischen süßlichem Schmachten und Sehnen auf der einen Seite und Monotonie, Noise und schrillem Geschrei auf der anderen. Und gerade weil dieser stän­digen Beschäftigung mit Menschen tiefe Enttäuschung (und damit immer auch große Hoffnung) zugrunde liegt, weil in der misanthropisch überzeichneten Sicht die Menschen eben nicht einfach egal sind, gehört zu der Musik, die dieser Sicht entspricht, fast schon folgerichtig das süße Pathos, das bei einem Song wie »I Cannot Resist« mit zähem Klaviergeklimper und Zeilen wie »Staring into your face / Thinking, god, what have I done? / And the litany of unacceptable kisses« mitschwingt. Wer solche Zeilen schreibt, steht eben nicht abgeklärt über den eigenen Gefühlen. Pathos als Gegen­entwurf zu ironischer Kälte bedeutet auch, die eigene Gefühlswelt als problematisch zu begreifen und sich zu fragen, wie man damit am ehesten umgehen kann. Das Ergebnis dieser Suche kann peinlich sein – zahlreiche Xiu-Xiu-Songs sind der Beleg dafür –, aber jeder künstlerischen Peinlichkeit ging zumindest voraus, dass der Künstler etwas riskierte.

Dieses Risiko sind Xiu Xiu mit ­jeder Platte eingegangen. Das war oft unangenehm, genauso oft aber schön; besonders wenn die Musik klanglich eine Frage wie diese aufwarf: Wie geht das – auf die Zumutungen einer harten Welt nicht mit Härte zu reagieren, sondern weich zu bleiben?

Xiu Xiu: Oh No ­(Polyvinyl Records)