Eine Erinnerung an die deutsch-türkische Poetin Semra Ertan

Dichten als Notwehr

Als Tochter von Arbeitsmigranten in Deutschland: Der zweisprachige Gedichtband »Mein Name ist Ausländer. Benim Adım Yabancı« würdigt die deutsch-türkische Poetin Semra Ertan, die sich aus Protest gegen rassistische Diskriminierung 1982 öffentlich verbrannte.

»Semra Ertan erinnerte mich daran, wie ich mich damals in den achtziger Jahren fühlte«, erzählt der in Hamburg lebende Soziologe Gürsel Yıldı­rım, der sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und Ausgrenzung engagiert. »In ihrem Gedicht ›Mein Name ist Ausländer‹ spiegelt sich das Leben Hunderttausender Menschen ihrer Generation«, sagt er über das bekannteste Gedicht von Ertan, das auch in türkischen Schulbüchern veröffentlicht wurde. Die ersten Zeilen des Gedichts, das sie am 7. November 1981 abends nach der Arbeit schrieb, lauten: »Mein Name ist Ausländer,/ Ich arbeite hier,/Ich weiß, wie ich arbeite,/Ob die Deutschen es auch wissen?/Meine Arbeit ist schwer,/Meine Arbeit ist schmutzig./Das gefällt mir nicht, sage ich./›Wenn dir die Arbeit nicht gefällt/ ’Geh in deine Heimat‹, sagen sie.«

In dem kürzlich erschienen Band mit Texten Ertans ist das titelgebende Gedicht sowohl in türkischer als auch deutscher Sprache abgedruckt. Der von von ihrer Schwester Zühal Bilir-Meier und ihrer Nichte Cana Bilir-Meier herausgegebene Band »Mein Name ist Ausländer« enthält Gedichte, Notizen, Briefe, Fotos und handschriftliche Aufzeichnungen Ertans. Sie bezeugen Ertans Wut und die Verzweiflung, die schließlich in den Enschluss mündeten, sich öffentlich zu töten. Im Alter von 25 Jahren verbrannte sich Ertan auf einer Kreuzung im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Ihren Suizid hatte sie durch Anrufe bei zwei Fernsehanstalten angekündigt und gefragt: »Ich werde mich verbrennen. Wollt ihr nicht darüber berichten?

Ertan wurde 1957 in Mersin an der türkischen Mittelmeerküste als Tochter einer Familie, die zur alevitischen Minderheit gehörte, geboren. Somit war sie »nicht nur in Deutschland gesellschaftlicher Ablehnung ausgesetzt, sondern erfuhr auch in der Türkei Ausgrenzung und Diskriminierung«, schreiben die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort. In ihren Gedichten sehnt sich Ertan zurück nach Mersin, kritisiert aber auch die Ausbeutung der Frauen, die dort der Macht der Aghas, der Großgrundbesitzer, unterworfen sind.

Im Alter von 14 Jahren kam Ertan zusammen mit ihren sechs Schwestern als sogenanntes Gastarbeiterkind nach Deutschland. Ihre Eltern Vehbiye und Gani Bilir arbeiteten zu diesem Zeitpunkt bereits in Kiel, wo sie einen Aufenthaltsstatus als Gastarbeiter hatten.

In einem Brief an einen Verleger berichtet Ertan über ihre Schulzeit in Deutschland und ihre enttäuschten Erwartungen. »Ich wollte hier das Gymnasium besuchen und einen akademischen Grad erreichen. ›Wollte‹ sage ich aus dem Grund (ohne einen Vorwurf daraus zu machen), weil es mir nicht ermöglicht wurde.« Dennoch begann sie als 15jährige, Gedichte zu verfassen, die sie in den Teestuben türkischer Arbeitervereinen in Hamburg und Kiel vortrug und irgendwann auch an die Redaktion der türkischen Tageszeitung Hürriyet schickte. In einem dieser Gedichte heißt es: »Ich bin eine unerfahrene Dichterin,/ ein Stift ist unerfahren,/ ein Blatt ist unerfahren,/ niemand kennt mich./ Ich kenne niemanden,
Niemanden interessiert es, was ich schreibe;/Aber mich.«

Die Anstrengung der Selbstbehauptung, die aus der trotzigen Wendung am Schluss dieses frühen ­Gedichts aufscheint, durchzieht den ganzen Band. So bekennt sie stolz: »Ich bin eine Arbeitertochter«, aber an anderer Stelle schreibt sie resigniert: »Gezwungenermaßen bin ich Dichterin geworden/ habe meine Sorgen auf Papier gebracht.«

Nach der Realschule begann Ertan eine Ausbildung als technische Bauzeichnerin, war als ehrenamtliche Dolmetscherin tätig und arbeitete in verschiedenen Betrieben. Ertan erlebte Deutschland als ein feindliches Land. Von der Türkei fühlt sie sich gleichermaßen verraten; als »unbrauchbare Menschen nach Deutschland verkauft«, als Devisenbringer für »das Vaterland« in der Ferne, wie sie in »Mein Name ist Ausländer« beklagt. Ertan, meint Gürsel Yıldırım, beschreibe auf berührende Weise, aber ohne Sozialromantik das Lebensgefühl der zweiten Generation. »Auf einer der Kassetten, die wir damals als zurückgelassene Kinder in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre anstelle von Briefen aus Deutschland bekamen, schilderte meine Mutter ihre Lebenssituationen auf ähnliche Weise wie Semra Ertan«, sagt Yıldırım.

Ertan beteiligte sich an antifaschistischen Protesten, etwa gegen die »Kieler Liste für Ausländerbegrenzung«, eine 1981 gegründete Tarnliste der neofaschistischen NPD, die am 7. März 1982 bei den Kommunalwahlen in Kiel auf 3,8 Prozent der Stimmen kam. Von diesem Erfolg motiviert, gründeten NPD-Leute vier Wochen später die »Hamburger Liste für Ausländerstopp«. Bereits 1975 gab es eine Zuzugssperre für »Gastarbeiter« in jene Stadtviertel, in denen bereits viele Migranten wohnten. Begründet wurde das Verbot mit den »Belangen der Bundesrepublik«, wie sie im Ausländergesetz definiert wurden. In der Wirtschaftskrise wurde die rechtsextreme Parole »Ausländer raus« gesellschaftsfähig. Im Juni 1981 veröffentlichten elf deutsche Hochschulprofessoren das »Heidelberger Manifest«, in dem die ­Gefahr der »Unterwanderung des deutschen Volkes« beschworen wurde. Semra Ertan trat aus Protest gegen den wachsenden Rassismus in einen Hungerstreik. Sie litt an Depressionen, war »an den Vorurteilen und Misshandlungen vieler Deutscher nervenkrank geworden«, wie sie selbst erklärte.

Den Abend vor ihrem Suizid ­verbrachte Ertan in Hamburg in einer Teestube und las Gedichte vor. Am nächsten Morgen kaufte sie sich an einer Tankstelle Benzin, übergoss sich damit und zündete sich selbst an. Zwei Tage später, am 26. Mai 1982, starb sie im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. »Sie hat sich vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit, geradezu demonstrativ verabschiedet, weil sie die Welt nicht ertragen konnte, in der sie lebte«, sagt Gürsel Yıldırım: »Sie hat sich auf eine tragische Art und Weise verabschiedet, damit ihr Leben nicht vergessen wird. Und auch nicht die gesellschaftlichen Hintergründe, die sie krank gemacht haben und sie dazu verleitet haben, sich umzubringen.«

In der Türkei war ihr Tod ein großes Thema. Die türkischen Zeitungen berichteten ausführlich. Hürriyet kritisierte, dass im deutschen Bundestag darüber geredet werde, wie die Ausländerzahl vermindert werden kann. In Milliyet erschien ein Interview mit einer der Schwestern ­Sem­ras. Sie erklärte, Semras Suizid werfe ein Schlaglicht auf die Verzweiflung der zweiten Generation.

Hamburgs Politiker reagierten unterschiedlich. Ausländerfeindlichkeit sei eine konkrete Bedrohung, sagte der spätere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, damals Fraktionsvorsitzender der SPD in der Bürgerschaft. Die Grün-Alternative Liste um Thomas Ebermann sprach von einer »Richtung Pogromstimmung gehenden Ausländerfeindlichkeit«, während der CDU-Fraktionsvorsitzende Hartmut Perschau davor warnte, die Erfahrungen Ertans zu verallgemeinern. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen sei frei von Ausländerhass.

Semra Ertan: Mein Name ist Ausländer. Benim Adım Yabancı. Edition Assemblage, Münster 2020, 240 Seiten, 18 Euro