Bob Dylan wird 80

Freund der Farmer

Bob Dylan hat schon einige Leben hinter sich. Wir gratulieren einem, der sich seit langem lieber mit seinen musikalischen Vorfahren befasst, als irgendjemandes Erwartungen zu erfüllen.
Von

Viele wie ihn gibt es nicht. Oder, um es gleich deutlich zu sagen: Niemand reicht an Bob Dylan heran. Journalisten, Medien oder anderweitige Vertreter dessen, was man heute Zivilgesellschaft nennt, gelangen nicht mehr in den Genuss eines Gesprächs mit oder gar einer Stellungnahme von dem Musiker. Dylan lebt und ist dennoch auf schweigend beredte Weise nicht mehr hier: Von keinem anderen populären Künstler in hochbetagtem Alter kann man sagen, dass sich die Welt unendlich viel mehr für ihn interessiert, als er sich für die Welt; viele wollen mit Dylan sprechen, Dylan hingegen mit niemandem.

Er erspart sich auf die Weise Peinlichkeiten, wie sie seinen nur unwesentlich jüngeren Zeitgenossen nur allzu gerne unterlaufen: solche wie die, als Ray Davies jüngst das 50 years reissue seiner melancholischen Rockoper »Arthur« über ein proletarisches Leben von Queen Victoria bis Harold Wilson der Klimaschutzbewegung anzudrehen versuchte, oder jene, wie sie etwa Steven Stills abgibt, wenn er als musikalisches Protestmaskottchen bei Versammlungen der Demokratischen Partei die älteren Teilnehmer bei Laune hält.

So zu tun, als ob sich die politische wie popkulturelle Welt seit den Sechzigern nicht grundstürzend verändert hätte, das hat Dylan nicht nötig – im Gegenteil, er kommentiert deren beider Niedergang auf seine Weise, ohne Statements von sich zu geben. Eine wohl noch klarere Botschaft als Dylans ostentatives Desinte­resse an dem ihm verliehenen Nobelpreis überbrachte jener »blockbuster deal« (New York Times), der im Dezember vergangenen Jahres für Aufregung sorgte: Ausgerechnet Dylan, der immer wieder mit aller Entschlossenheit und Galligkeit bis tief in die neunziger Jahre dafür gesorgt hatte, dass seine Songs nicht in Werbe-Jingles oder Fern­seherkennungsmelodien verwurstet werden, verkaufte die Rechte an seinem bisherigen musikalischen Gesamtwerk in Bausch und Bogen an Universal Music. Schätzungen zufolge soll Dylan dafür 300 Millionen Dollar vom weltgrößten Musikkonzern erhalten haben.

Das Entsetzen war groß, nicht zum ersten Mal in Dylans langer Karriere beklagten enttäuschte Fans, er habe die gute Sache im Stich gelassen. Aber welche eigentlich? Warum sollte ein Musiker nicht einsehen, dass so etwas wie die Integrität des Werkes il­lusionär wird in Zeiten, in denen Streaming das Hauptgeschäftsmodell und Casting das bevorzugte Vermarktungsformat darstellt? Warum sollte beispielsweise ein Energiekonzern nicht mit »Blowin’ in the Wind« für Windräder werben, wenn sich doch auch Kunst – und nicht nur populäre – zusehends auf das beschränkt, was Fredric Jameson als postmodernes »Pastiche« bezeichnet: den Eigencharakter willkürlich gewählter Bruchstücke der Vergangenheit in einer Montage für die reine Gegenwärtigkeit untergehen zu lassen?

Jedenfalls aber war dieser Verkauf die wohl einträglichste Art, den Abermillionen Fans, die Dylan für sich reklamieren (deren notorischster Vertreter hierzu­lande Wolfgang Niedecken sein dürfte), wieder einmal »It Ain’t Me Babe« in Erinnerung zu rufen. Nicht so zu sein, wie es von ihm gewünscht wurde, um eine Zeile des Songs zu paraphrasieren, da­rauf hatte Dylan in seiner ganzen Karriere mit ihren abrupten Umbrüchen beharrt (»I’m Not There« betitelte Todd Haynes 2007 denn auch zutreffend seine hervorragende Filmbiograhie Dylans): Die Existenz als Abziehbild eines angry young man, die Folk-Fans und Antikriegsbewegung von ihm erwarteten, floh er und verwan­delte sich in einen flamboyanten Dandy der Introspektion mit elek­trischer Bandbegleitung. Das blieb er nicht lange, zu suspekt waren ihm die Esoteriker aus Haight-Ashbury; während alle Welt nach Woodstock zog, ging er nach Nashville, Tennessee, die Hauptstadt der Reaktion in den Augen der Hippies, um das zu machen, was später als alternative country bezeichnet werden sollte; und als der Rockzirkus sich in der großen Katerstimmung der siebziger Jahre mit Westcoast und Country-Rock zu kurieren suchte, Dylan also quasi hinterherkam, zog dieser sich nicht mehr nur örtlich, sondern auch zeitlich zurück.

Immer weiter tauchte er in die musikalische Vergangenheit ein, in die Vorgeschichte von Rock ’n’ Roll und Rhythm ’n’ Blues. In den Achtzigern lebte er eine Weile als puritanischer Farmer, produzierte Gospelalben, seine Ausflüge in die Welt des Pop wurden sporadischer, seine Interviews auch – Dylan begann, als zeitgenössische Figur zu verschwinden, um sich peu à peu in so etwas wie seinen eigenen Vorläufer zu verwandeln. Immer weniger kommentierte er Fehlentwicklungen der Gegenwart, immer mehr schien es, als ob er diese Gegenwart insgesamt als Fehlentwicklung empfinde.

Explizit Partei ergriff er lediglich noch einmal für die US-amerikanischen Farmer, eine denkbar gestrig scheinende soziale Gruppe. Dylans Bemerkung beim »Live Aid«-Konzert in New York 1985, dass er hoffe, dass etwas von den eingespielten Geld auch hochverschuldeten Farmern zukommen möge – was natürlich mediale Entrüstung nach sich zog –, ­inspirierte Country-Star Willie Nelson, noch im selben Jahr die »Farm Aid«-Konzertreihe ins ­Leben zu rufen. Ungewöhnlich bereitwillig fungierte Dylan als Promoter und natürlich Haupt-Act des ersten Konzertes, tief im Mittelwesten, in Champaign, Illinois.

Ganz offensichtlich zog es ihn hin zu Nelson, einem der führenden Köpfe der outlaw-Strömung, die in Nashvilles Studios wieder sozialrealistische Themen etablierte, oder auch zu Charley Pride, dem afroamerikanischen Country-Idol. Das bäuerlich-proletarische ländliche Amerika, aus dem Robert Allen Zimmerman einst ausgezogen war – er stammt aus Minnesota –, um sich fürderhin Dylan zu nennen, hatte ihn wieder: Bis heute lebt Dylan auf einer Farm in seinem Heimatstaat, dessen Holz- und Erzminenindustrie zwar nahezu Geschichte ist, der aber immer noch zu den größten Produzenten landwirtschaftlicher Güter in den USA zählt. Doch war diese Heimkehr mitnichten die typische Raus-aufs-Land-Spinnerei eines desillusionierten Rockstars: Es war ein Abschied von all den Träumen der Sechziger, die sich in die Alpträume der Achtziger verwandelt hatten. Es war eine Rückkehr in die akustische Welt, wie sie war, bevor Elvis Presley zum Star wurde: eine Welt, die mindestens nostalgisch noch fortlebt, weil es in ihren Musiktraditionen keine Rolle spielte, ob die Synkopen ihrer Lieder nun aus Westafrika oder Irland stammten, ob nun die berühmtesten Blues-Stücke von weißen oder schwarzen hillbillies geschrieben oder interpretiert wurden (was auch für die Country-Musik gilt, die noch in den dreißiger Jahren häufig ebenfalls unter dem Label race music lief) – und wo es auch häufig keine allzu große Rolle spielte, welche Hautfarbe man überhaupt hatte, weil einem die Verachtung der ­Fabrik- und Landbesitzer ohnehin galt, zumal die Plackerei in der Kohlemine, dem Sägewerk oder auf dem Feld jeden Pigmentierungsunterschied schnell unkenntlich machte.

Dylan ging zurück zu den Wurzeln seiner eigenen Musik, zu ganz frühen seiner Songs wie »North Country Blues« oder »The Ballad of Hollis Brown«, beide 1963 aufgenommen, die den Niedergang jener proletarischen ­communities beklagten, aus denen die Blaupausen der späteren Rock- und Popmusik stammten. Die Richtung seines Spätwerks setzten die beiden Dylan-Alben »Good as I Been to You« (1992) und »World Gone Wrong« (1993), auf denen er Folk-, Bluegrass- und Country-Blues-Fundstücke präsentiert – und keine Eigenkomposition. Dylan betreibt seither vorrangig eine Art sozialer Archäologie der populären Musik. Immer wieder in den vergangenen bald drei Jahrzehnten grub Dylan tief im Repertoire der Vorgeschichte seines ­eigenen Aufstiegs, aber nicht, um Songs schlicht zu covern; »un­covering them, lifting them out of their graves« (sie freizulegen und aus ihrem Grab zu bergen), das sei sein Ziel, sagte Dylan 2014 dem Rolling Stone.

Auch live performte Dylan viel in den vergangenen Jahren, allerdings ohne dass das Publikum wüsste, welche Art Programm es an diesem oder jenem Abend erwartet. Das Einzige, was als gesichert gelten darf, ist, dass Dylan nach Möglichkeit nicht das tun wird, was das Publikum von ihm erwartet. Seine alten Erfolge dürfen ja jetzt ohnehin andere nach Belieben zum Besten geben, während Dylan selbst mit seinen nunmehr 80 Jahren vielleicht noch für weitere Enttäuschungen seiner Fans gut sein könnte – mehr kann man schlechterdings nicht verlangen.