Die Alben von My Bloody Valentine werden neu aufgelegt

Über den Stühlen

Ende Mai werden die Platten der Shoegaze-Pioniere My Bloody Valentine neu aufgelegt, die die Musik der Neunziger stark prägten. Die radikalen Ästheten und ihre Noise-Experimente scheinen nicht ganz in die heutige Zeit zu passen, in der sich im Pop vieles um den Inhalt und weniger um die Form dreht.

My Bloody Valentine könnten ein Lied davon singen, wie es ist, dem eigenen Mythos nicht entkommen zu können. Wenn es ihnen denn ein Anliegen wäre, einfach nur Lieder zu singen. Genau dem verweigerten sie sich, als sie »Love­less« aufnahmen, das 1991 erschienene Album, das den meisten Musikfans als Erstes in den Sinn kommen dürfte, wenn sie die Genrebezeichnung Shoegaze hören (in Wirklichkeit starrten Shoegaze-Bands natürlich nicht auf ihre Schuhe, sondern auf ihre Effektgeräte). Wer einfach nur auf der Suche nach ein paar schönen Liedern ist, den wird »Loveless« enttäuschen. Songs im wörtlichen Sinne – also die Kombination von Worten und Melodien – sind darauf kaum zu finden.

Für Kevin Shields, den künstlerischen Kopf der Band, sind Songs nicht viel mehr als grobe Ausgangspunkte. Der Popkritiker Simon ­Reynolds bescheinigte den Aufnahmen My Bloody Valentines einst eine Geistesverwandtschaft mit den Gemälden des abstrakten Expres­sionismus. Im Sinne dieser Analogie sind Songs für My Bloody Valentine lediglich Orientierungslinien, die der Maler als erstes auf die Leinwand bringt, bevor er sie unter mehreren Farbschichten ertränkt.

Der Band-Mythos rührt denn auch genau daher. Beim Auftragen der Schichten soll Shields sich so sehr in seinen Perfektionismus hineingesteigert haben, dass Creation Records, das einflussreiche Indie-Label, auf dem »Loveless« erschien, um ein Haar pleite gegangen wäre. Shields soll einen Toningenieur nach dem nächsten vergrault haben, während er mit dunkel umrandeten Augen Gitarrenspur über Gitarrenspur schichtete, nur um das Ergebnis Stunden später wieder zu löschen, und Label-Boss Alan McGee den Zutritt zum Studio verwehrte, damit der sich nicht in den künstlerischen Prozess ein­mischen konnte. Geschichten wie diese zeichnen das Bild eines exzentrischen Genies, das von der eigenen Ambitioniertheit und Kompromisslosigkeit an die Grenzen getrieben wird.

Am umstrittensten ist dabei die Behauptung, »Loveless« habe Unmengen an Geld gekostet und das Label beinahe in den Ruin getrieben, bevor es 1994 durch den Überraschungs­erfolg des ersten Oasis-Albums »Definitely Maybe« (und einen lukrativen Deal mit Sony Records) gerettet wurde. 280 000 Pfund habe die Platte gekostet, so McGee, was heute einem Betrag von über 550 000 Euro entspräche. Shields hielt dagegen, nie eine Abrechnung gesehen zu haben, die diese aus seiner Sicht willkürliche Behauptung stützen würde. Das Nachspiel um »Loveless« je­denfalls scheint das Bild von Shields als schwierigem Perfektionisten zu bestätigen. 1997 zerbrach die Band an dem Versuch, eine Nachfolge­platte aufzunehmen. Erst 2013 erschien »m b v«.

Dabei ist die Entstehungsgeschichte von My Bloody Valentine keine, die mit einem perfektionistischen Kunstverständnis verknüpft wäre, ganz im Gegenteil. Als Teenager begeisterte sich Shields, der bis zu seinem zehnten Lebensjahr in New York City gelebt hatte, ehe seine Familie zurück nach Irland zog, für Punkrock. Die Setlist seiner ersten Band, der bereits Colm Ó Cíosóig, der spätere Drummer von My Bloody ­Valentine, angehörte, bestand aus Covern von Songs der Ramones und der Sex Pistols. Shields sah hier jedoch keinen Widerspruch zu seiner eigenen, anders klingenden Musik: »Johnny Ramone hat nicht Gitarre gespielt. Er hat Sound generiert.« Und Sound ist ja schließlich, worum es auch bei My Bloody Valentine geht.

Nicht jedoch zu Beginn: 1983 gründeten Shields und Ó Cíosóig My Bloody Valentine zusammen mit dem Sänger David Conway. Ganz im Gegensatz zum heutigen Bild ihrer Musik als Resultat von künstlerischem Perfektionismus, bei dem kein Ton dem Zufall überlassen bleibt, zeichnete sich diese frühe Variante der Gruppe durch ihre Unbeständigkeit aus. Anfangs wechselten sie mit ­jedem Release das Genre – von Post-Punk über Indie Rock bis zu Noise Pop – und sogar ihren Standort: Weil sie in ihrer Heimat Irland keinen bleibenden Eindruck hinterlassen konnten, zogen die Mitglieder zuerst in die Niederlande, dann nach Berlin und schließlich nach London. Die Veröffentlichungen aus dieser Zeit wurden nie neu aufgelegt.

Offensichtlich betrachtet die Band diesen Teil ihrer Geschichte als reine Findungsphase. Erst als sich 1987 das seitdem – mit Ausnahme einer zehnjährigen Pause – beständige Line-up aus Shields (Gitarre, Gesang), Ó Cíosóig (Schlagzeug), Debbie Googe (Bass) und Bilinda Butcher (Gitarre, Gesang) zusammengetan hatte, fanden My Bloody Valentine mit der EP »You Made Me Realise« zu ihrem eigenen Sound. Die offizielle Geschichtsschreibung der Gruppe beginnt erst zu diesem Zeitpunkt – das gilt auch für die jüngste Neuauflage, die alle Veröffentlichungen vor »You Made Me Realise« außer Acht lässt.

Mit ihren frühen EPs und dem Debütalbum »Isn’t Anything« von 1988 gelang es den Valentines, sich ­einen Namen in der britischen Indie-Szene zu erspielen. Einige der Vor­bilder sind auf diesen Aufnahmen noch herauszuhören, zum Beispiel der melodiöse, verzerrte Bass von ­Dinosaur Jr. oder der Kontrast aus Lärm und Melodie, mit dem The Jesus and Mary Chain 1985 zu einer kleinen Indie-Sensation geworden waren. Doch wie der Titel »Isn’t Any­thing« bereits andeutet, begann in dieser Phase auch ein Prozess, in dessen Verlauf sich die Musik von My Bloody Valentine immer schwieriger fassen ließ.

Eindeutig erkenn- und definierbare Elemente nahmen eine immer geringere Stellung in ihrem Sound ein. So teilten sich Kevin Shields und Bilinda Butcher den Gesang, sangen aber oft gleichzeitig, wobei Shields die höheren Parts übernahm und Butcher die tieferen. Im Mix stehen ihre Gesangsspuren gleichberechtigt nebeneinander, so dass sie zu einer androgynen Einheit verschwimmen, in der oft nicht mehr eindeutig erkennbar war, welche Stimme zu wem gehörte.

Im Song »You Made Me Realise« finden sich 40 Sekunden, die dieses Prinzip radikal zu Ende führen und andeuten, welche Richtung die Band später einschlagen würde. Bevor das Lied in die letzte Strophe übergeht, werden die Hörer mit einer überwältigenden Welle aus purem, strukturlosem Lärm konfrontiert. Live treibt die Band diesen Teil noch auf die Spitze, indem sie ihn über 15 bis 30 Minuten durchhält. Es ist unmöglich, sich einer körperlichen Reaktion auf diese Noise-Attacke zu entziehen. Nach einer Weile verliert sie ihre Aggressivität, man gewöhnt sich an den Lärm, bis er anfängt, komfortabel zu werden, wie eine wärmende Decke, die den Körper komplett umhüllt. Viele fangen nach einer Weile an, in dem Klangteppich Melodien wahrzunehmen, die gar nicht da sind. Sämt­liche ungeschriebene Regeln, was Rockmusik ausmacht und was sie auslöst, verschwinden darunter.

Als »Loveless« 1991 erscheint, haben sich My Bloody Valentine endgültig von den musikalischen Strukturen einer Rockband gelöst. War »Isn’t Anything« noch als das Werk einer – wenn auch ungewöhnlichen – Rockband zu erkennen, wird das Prinzip Rocksong auf dem Nachfolger ­demontiert. Die Texte sind kaum erkennbar und wurden von der Band auch nie schriftlich veröffentlicht. Ihre Inhalte sind völlig nebensächlich, es herrscht radikaler Ästhetizismus. Anders als üblich steht der ­Gesang auch nicht im Zentrum des Mixes, sondern ist nur eines von vielen gleichberechtigten musikalischen Elementen. Das konventionelle Ziel des Mixes, die jeweiligen Elemente eines Stücks gut erkennbar zu machen, wird missachtet; der Mix hier greift auf sie lediglich zurück, um ­instabile, variable Sounds zu kreieren. Die Stimmen von Kevin Shields und Bilinda Butcher werden in die Distanz gerückt, klingen wie ferne Erinnerungen aus einem Fiebertraum.

Auf »Isn’t Anything« ist der harmonische Gesang noch im Kontrast zu den aggressiven Instrumenten wahrzunehmen. Auf »Loveless« verschwimmen diese gegensätzlichen Elemente zu einer Einheit, ähnlich wie die Stimmen von Shields und Butcher in Kombination die Gender-­Dichotomie überwunden zu haben scheinen. Die extrem verzerrten ­Gitarren generieren einen Lärm, der konstruktiv ist statt destruktiv: eine Noise-Sinfonie, die die Schönheit von »Loveless« erst ermöglicht, statt sie zu sabotieren.

»Loveless« ist Musik gewordene adoleszente Romantik. Die Adoleszenz drückt sich im Lärm aus: Alles scheint unklar und verschwommen, ab und zu schimmert ein Detail durch, das Stabilität verspricht, doch nichts scheint sicher und alles möglich. Weil der wall of noise keine Zwischenräume lässt, klingt das Album gleichzeitig beengend, andererseits scheint alles innerhalb dieses engen Raumes in weiter Ferne zu liegen. Das paradoxe Wesen des Teenagers, zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, wird ästhetisch eingefangen statt textlich thematisiert. Die Gitarren werden durch einen umgekehrten Halleffekt verfremdet, wabern hin und her, die Akkorde biegen sich selbst wiederholt in die richtige Stimmung und wieder hinaus: Was man gerade noch fest in den Händen zu halten meinte, wird einem sofort wieder entrissen.

Dieser Schwebezustand spiegelt auch die Verfassung der Band bei den Aufnahmen wider. Entgegen der gängigen Behauptung, die Musiker müssten bekifft oder auf psychede­lischen Drogen gewesen sein, sorgte eine natürliche Methode für veränderte Wahrnehmung: Große Teile des Albums entstanden in von Schlaflosigkeit ausgelöster Trance. »Den Gesang haben wir oft um 7.30 Uhr am Morgen aufgenommen«, erinnert sich Bilinda Butcher. »Ich war gerade eingeschlafen und wurde dann aufgeweckt, um zu singen.«

Lange sah es so aus, als würde es nie einen Nachfolger von »Loveless« geben. My Bloody Valentine unterschrieben bei der größeren Plattenfirma Island Records und Shields nutzte das Geld, das diese der Band zur Verfügung stellte, um sich ein ­eigenes Studio bauen zu lassen. Als sich dieses als nicht funktionstüchtig herausstellte und mehr Geld und Nerven nötig wurden, um die Mängel zu beheben, war das der Anfang des vorläufigen Endes. Die Aufnahmen zu einem dritten Album endeten 1997, nachdem Bilinda Butcher es Colm Ó Cíosóig und Debbie Googe gleichgetan hatte, die die Gruppe ­bereits zwei Jahre zuvor verlassen hatten, weil sie seit 1992 im Stillstand verharrte.

2007 tat sich die Band wieder zusammen, um Konzerte zu spielen. 2013 erschien das dritte Studioalbum »m b v«, das teils aus nun vollendeten Stücken auf Basis der Aufnahmen in den Neunzigern und teils aus komplett neuen Songs bestand. Den Jungle- und Drum&Bass-Einflüssen auf der zweiten Hälfte des Albums (die erste setzt da an, wo »Loveless« aufgehört hatte) hört man die Herkunft aus den neunziger Jahren an. Nach der Veröffentlichung des Albums tourten die Iren intensiv – danach wurde es wieder still um die lauteste Band mit dem schönsten Lärm der Welt.

2018 kündigte Kevin Shields eine neue EP an, die nie erschien. Heute weiß man, warum: weil sie zu einem Album angewachsen ist. Wenn man Shields glauben kann, haben My Bloody Valentine bereits die Arbeit an zwei neuen Platten so gut wie abgeschlossen. Auch 2012, ein Jahr vor der Veröffentlichung von »m b v«, wurde die bisherige Diskographie der Band ab 1988 neu aufgelegt. Diesen Monat ist es wieder so weit.

Die vierte Ära im Gesamtwerk von My Bloody Valentine scheint unmittelbar bevorzustehen. Einerseits passt die Rückkehr der Band, die sich der Unklarheit verschrieben hat, gut in eine Zeit, in der sicher Geglaubtes hinterfragt wird und immer unklarer erscheint, wie die Zukunft aussehen wird. Andererseits neigt der Popdiskurs im Jahr 2021 nach Jahren der Moralisierung dazu, inhaltliche über formelle Erwägungen zu stellen, was dem radikalen Ästhetizismus der Valentines diametral entgegensteht. Aber wenn ihr bisheriges Werk Rückschlüsse zulässt, werden sich Shields, Butcher, Ó Cíosóig und Googe ohnehin nicht mit der Frage beschäftigen, wie sie sich am besten zwischen diese Stühle zwängen können, sondern einfach über ihnen schweben.

My Bloody Valentine: EPs 1988–1991 and Rare Tracks / Isn’t Anything / Loveless / m b v (Domino Records)