Das Instagram-Projekt »Ich bin Sophie Scholl«

Entlastung und Erinnerung

»Ich bin Sophie Scholl« erzählt auf Instagram die Geschichte der ­deutschen Widerstandskämpferin, über 900 000 Menschen folgen dem Account. An dem Projekt gibt es auch Kritik.

Würde man Deutsche auffordern, drei Widerstandskämpfer oder -kämpferinnen gegen den Nationalsozialismus aufzuzählen, wäre Sophie Scholl sicherlich dabei. Die Widerstandsgruppe Weiße Rose im Allgemeinen und ihr Mitglied Sophie Scholl im Besonderen gehören zum Kernbestand deutscher Erinnerung. Eine studentische Gruppe, die ab Juni 1942 Flugblätter gegen den Nationalsozialismus verteilte – darauf können sich alle einigen. Selbst auf »Querdenken«-Demonstrationen ist Sophie Scholl omnipräsent, eine Rednerin verkündete im vergangenen November sogar von der Bühne: »Ich fühle mich wie Sophie Scholl.«

Das Angebot, sich auf Instagram mit der deutschen Widerstands­kämpferin Sophie Scholl zu identifizieren, entlastet diejenigen, die dem Account folgen.

Die Verdienste der Weißen Rose schmälert das nicht. Sophie Scholl und ihr Bruder Hans bezahlten ihren Widerstand mit dem Leben. Aber es ist auffällig, wie abwesend die Erinnerung an jüdische und linke Widerstandskämpfer und -kämpferinnen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist. Mit Georg ­Elser, der am 8. November 1939 nur knapp mit dem Versuch scheiterte, durch ein Bombenattentat im Münchner Bürgerbräukeller Adolf Hitler und weitere Mitglieder der NS-Führung zu töten, oder Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris niederschoss und dessen Geburtstag sich kürzlich beinahe unbemerkt zum 100. Mal jährte, will sich wohl kein »Querdenker« identifizieren.

An Sophie Scholl als Medium zur ­Erinnerung wagt sich seit Ende April ein neues Instagram-Projekt von SWR und BR. »Ich bin Sophie Scholl« heißt es und begleitet eine fiktive Sophie Scholl anlässlich ihres 100. Geburtstags die letzten zehn Monate ihres Lebens. In dieser Zeit beginnt sie in München zu studieren, wird Mitglied der Weißen Rose, druckt und verteilt Flugblätter, bis sie verhaftet und hingerichtet wird. Das Instagram-Profil soll mit ihrer Verhaftung enden, bei der ihr das Smartphone abgenommen wird.

Das Projekt verspricht, dass man so am Leben von Scholl, gespielt von Luna Wedler, »hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit« teilhaben könne. Die fiktive Sophie veröffentlicht täglich Fotos, Zeichnungen sowie Videos und teilt Storys. Kombiniert wird das mit erklärenden und einordnenden Fakten. Das Material ist breit gefächert: Skizzen, Selfies, Kurzfilme und original NS-Propagandamaterial werden veröffentlicht.

Selbstverständlich gab es viel Kritik an dem Projekt. Das Angebot, sich mit einer deutschen Widerstandskämpferin zu identifizieren, entlastet die Follower und passt zu Filmen wie dem ZDF-Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« von 2013. Präsentiert wird hier die Geschichte eines Volks von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen oder wenigstens Unzufriedenen, die das Ende des Nationalsozialismus herbeisehnen. Der Realität entspricht das nicht. Der Nationalsozialismus war bis zuletzt eine Zustimmungsdiktatur.

Bei der Instagram-Figur Sophie Scholl sieht das allerdings anders aus. In einer Story, die der Account am 4. Juni veröffentlicht hat, ist zu sehen, wie ein Nationalsozialist in Uniform in der Universität Ausweise kontrolliert. Sophie zeigt widerwillig und frech die Dokumente. Hier wird aus dem Blickwinkel einer der nicht so zahlreichen Personen erzählt, die mit dem Nationalsozialismus nicht einverstanden waren. Das ergibt logischerweise ein verzerrtes Bild. Es suggeriert, dass die deutsche Bevölkerung unter den Schikanen der Nazis gelitten habe. Hält man sich die Leiden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vor Augen, das von der deutschen Bevölkerung erst ermöglicht wurde, grenzt das an Re­lativierung.

Diese Entlastungserzählung verstärkt eine gefährliche Tendenz: Einer Umfrage der Zeit aus dem vergangenen Jahr zufolge glaubt ein Drittel der Deutschen, ein Großteil ihrer Vorfahren seien Gegner des Nationalsozialismus gewesen. Kaum jemand geht ­davon aus, Täterinnen und Täter in der Familie zu haben. Tatsächlich war aber die Anzahl der Deutschen im Widerstand verschwindend gering. Viel zu viele machten mit, viel zu wenige stemmten sich dagegen. Die meisten der wenigen bezahlten ihren Widerstand mit ihrem Leben – wie Sophie Scholl.

Es ist leicht, das social media-Projekt zu kritisieren. Ja, das Identifikationsangebot kann zur Entlastung dienen. Es suggeriert Unmittelbarkeit, wo doch das Medium die realen Geschehnisse schon derart verzerrt, dass ernsthafte historische Bildung von vornherein ausgeschlossen ist. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob es sich überhaupt für erinnerungspolitische Projekte eignet.

Unbenommen ist jedoch, dass sich unter jedem Instagram-Post Hunderte auf das Rollenspiel einlassen. Sie ­schreiben Sophie, sprechen ihr Mut zu, warnen sie vor der Zukunft oder drücken ihr Respekt aus. Einige loben das Projekt. Wieder andere erzählen die Geschichte ihrer eigenen Familie im Nationalsozialismus. Etliche Kommentare aber lesen sich exakt so wie unter beliebigen anderen Instagram-Beiträgen: Die Frisur der fiktiven Sophie Scholl wird gelobt, ihre Freude am Fahrradfahren wird nachempfunden, Binsenweisheiten und Kalendersprüche werden ausgetauscht.

Sicher ist jedenfalls, dass »Ich bin Sophie Scholl« das derzeit am meisten Aufsehen erregende und beinahe das reichweitenstärkste Erinnerungsprojekt mit Bezug auf den Nationalsozialismus auf Instagram ist. Mittlerweile hat der Account über 900 000 Follower und Followerinnen, die wöchentlichen Zusammenfassungen werden von rund einer Viertelmillion Menschen angeklickt. Dem staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, das die auf Twitter erfolgreichste Gedenkstätte ist, folgen auf Instagram lediglich etwa 120 000 Menschen. Die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat rund 90 000 Follower und Followerinnen, das United States Holocaust Museum in Washington, D.C., etwa 140 000. Lediglich das israelische Projekt »Eva Stories« – der einzige Account, dem die fiktive Sophie Scholl folgt – hat über 1,2 Millionen und damit mehr als »Ich bin Sophie Scholl«. Noch.

»Eva Stories« erzählte vor gut zwei Jahren auf Instagram und Snapchat die Geschichte von Eva Heyman, einer jungen ungarischen Jüdin, die 1944 in Auschwitz ermordet worden war. In 30 Storys beschrieb das Projekt das Leben vor Evas Deportation, beruhend auf ihrem Tagebuch. Bei der Deportation wurde ihr, so die Geschichte, das Smartphone entwendet. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich »Ich bin Sophie Scholl« an diesem Projekt orientiert. »Eva ­Stories« war ein israelisches Projekt. Die Perspektive der Jüdin, die in der Shoah ermordet wurde, ergab somit Sinn. Jetzt dient die deutsche Widerstandskämpferin als Pendant. Scholl ist ein Identifikationsangebot für nichtjüdische Deutsche.

Wie versprochen sind Scholls Posts und Storys emotional. Sie ist nahbar, veröffentlicht intimste Details, spricht von ihrer Menstruation ebenso wie von ihrer Liebe. Die Emotionalisierung spiegelt sich auch in der Dramaturgie wider. In den ersten drei Wochen nach Beginn des Projekts ist Sophie der ­Widerstandsgruppe ihres Bruders langsam auf die Schliche gekommen. Ihre Suche nach dem, was ihr Bruder treibt, war fast wie eine Kriminalgeschichte inszeniert. Als sie es schließlich herausbekommt, darf sie mitmachen: Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl ist geboren, eine Heldinnengeschichte entspinnt sich.

Man kann dem Projekt zugutehalten und zugleich auch vorwerfen, dass es Instagram ernst nimmt und mit den Möglichkeiten, die die Plattform bietet, die Geschichte der jungen Widerstandskämpferin erzählt. Zehn Monate kann man den Lebensweg von Sophie Scholl verfolgen. Und das täglich. Das Projekt lädt damit einen Ort mit Erinnerung an den Nationalsozialismus auf, an dem diese sonst kaum einen Platz hat. Instagram ist ein Medium des Jetzt, Posts sind in der Regel Wegwerfprodukte. Hier eine Inszenierung der Ver­gangenheit einzubringen, kann zu Irritationen führen und eine, wenn auch kleine, Unterbrechung des alltäglichen Feeds bedeuten. Das ruft im besten Fall Gedenken hervor, worin sich das deutsche Konzept der Beiläufigkeit ­sogenannter Erinnerungskultur spiegelt. Das birgt die Gefahr der Trivialisierung, ist aber auch wesentlich alltäglicher und niederschwelliger als eine Studienfahrt oder der Besuch einer Gedenkstätte.

Wer an dem Projekt kritisiert, es sei nicht authentisch, übersieht einen ­entscheidenden Aspekt von Instagram: Die Plattform behauptet zwar, ein Ort der Authentizität zu sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Was hier gezeigt wird, ist inszeniert und daher nicht authentisch – ob es die Person gibt oder gab oder ob sie nie existierte. Die Selbstdarstellung der fiktiven Sophie Scholl passt so gut ins Format, dass der Unterschied zwischen Realität und Fiktion in der Wahrnehmung einiger Nutzerinnen und Nutzer offenbar verschwimmt. Es wird interessant sein zu sehen, ob das auch so bleiben wird, wenn Scholls Geschichte unvereinbar mit der krampfhaften Positivität des Mediums wird.