Künstlerinnen klagen die Gewalt gegen Frauen in der Türkei an

Die Sprache der Täter

Mit einer Ausstellung protestieren Künstlerinnen gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-­Konvention.

»Ich hab sie doch täglich verprügelt, warum ist sie diesmal gestorben?« Dieser unfassbar grausame Satz ist ein Zitat. Es ist eine von vielen abscheulichen Aussagen, die die junge türkische Künstlerin Meltem Şahin auf großformatigen Postern in einer Gruppenausstellung in Istanbul dokumentiert. Mit der am 25. Juni eröffneten Ausstellung »Birinin acısı öbürüne geçmiyor« (Der Schmerz der einen geht nicht auf die anderen über) protestieren türkische Künstlerinnen gegen den am 1. Juli vollzogenen Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Die Kolumnistin Hilâl Kaplan wirbt in der regierungs­treuen Tageszeitung »Sabah« offen für die Wieder­einführung der Todesstrafe für Mord. Deren Abschaffung war 2004 eine Voraussetzung für die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei.

Die Aussagen auf den Plakaten ­lösen Abscheu aus. Es sind Rechtfertigungsversuche von Männern, die eine Frau getötet haben – ihre Ehefrau, eine Schwester oder Freundin. Das wiederkehrende Muster: Schuldgefühle kennen die Täter nicht, sie bedauern sich selbst, die Schuld schieben sie dem Opfer zu: »Sie hat mich betrogen«, »Sie hat gehustet«, »Sie hat gewagt zu atmen«.

Die Zitate, die Şahin für die Ausstellung verwendet hat, stammen aus einem Gedicht von Birhan ­Keskin und Aslı Serin mit dem Titel »anıt sayaç« (Monument). Es war 2015 auf der Webseite anitsayac.com erschienen, einem digitalen Archiv, dass Frauenmorde dokumentiert. Die Lyrikerinnen wiederum hatten Zitate der Täter Medienberichten entnommen und in ihren Text eingearbeitet.

An dem Gedicht hatten Keskin und Serin zwei Monate lang gearbeitet, um auf männliche Gewalt aufmerksam zu machen. Als es erschien, wurde es zum Fanal des Protests ­gegen die Ermordung der Studentin Özgecan Aslan 2015.

»Während wir dieses Gedicht schrieben«, erzählten die Autorinnen, »war Özgecan noch nicht ermordet worden. Wir haben eine solche Arbeit begonnen, um auf die Seite anitsayac.com und die rasant zunehmende männliche Gewalt in den vergangenen Jahren aufmerksam zu machen. Die letzte Strophe wurde nach Öz­gecans brutaler Ermordung geschrieben. Und wir haben verstanden, dass es keinen anderen Weg gibt, dieses Gedicht fortzusetzen.«

Die Ermordung der 19jährigen Studentin Özgecan Aslan in dem Istanbuler Ausgehviertel Kadıköy hatte 2015 landesweite Proteste ­ausgelöst. Vor allem der Tenor der Berichterstattung AKP-naher Me­dien hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Tatsache, dass die ­junge Frau nachts allein unterwegs war und einen kurzen Rock getragen hatte, war von den Kommentatoren ausgiebig erörtert worden; ganz so, als sei dies das eigentliche Verbrechen. Aus Solidarität mit der ermordeten Studentin und aus Wut über die Beschuldigung des Opfers trugen bei einer Demonstration in ihrem Heimatort viele Frauen und Männer kurze Röcke.

Das zehnstrophige Gedicht von Birhan Keskin und Aslı Serin traf ­einen Nerv bei vielen wütenden jungen Frauen. So auch bei Meltem Şahin: »Das Gedicht reflektiert die Rhetorik von Tätern, Justiz und Männern und stellt die Gefühle und die Realität der Opfer dagegen. Die Frauen geben ihrer Ohnmacht, Wut und der Gegenwehr eine Stimme.«

Die Künstlerin hörte sich die Rezitation als Loop an einem Abend stundenlang an und zeichnete dazu. Jetzt hängen die Zeichnungen in der Ausstellung, die in den Räumen des Literaturhauses »Kiraathane« stattfindet. Die Bilder zeigen Männer und Frauen als inkompatible Spezies, in Posen aus der Tierwelt, manchmal in scheinbarer Geborgenheit, doch überall lauert Gefahr. Eine Zeichnung zeigt ein Wesen, das Mann oder Frau sein kann, der Kopf ist kahl, zwischen den gekreuzten Händen ein Gesicht, das wie ein Herz wirkt, das nicht mehr schlägt. Es sind verstörende Bilder. Adams Rippe, aus der Eva laut religiöser Überlieferung geformt sein soll, liegt frei, ein großer Torso mit kleinem Kopf und verrenkten Gliedern. Nicht die Beine, sondern die Hände halten die Gestalt, die keinen Unterleib hat, im Schneidersitz.

Eine Strophe aus Keskins und Serins Gedicht lautet: »Wenn es um Monumente geht, lasst uns noch an Folgendes erinnern: Im Süden der Türkei sitzt ein versteinerter Mann. Im Norden der Türkei sitzt ein versteinerter Mann. Im Osten der Türkei sitzt ein versteinerter Mann. Im Westen der Türkei sitzt ein versteinerter Mann. Die Türkei ähnelt immer mehr einem verödeten Steinhaufen.« In einer anderen Strophe heißt es: »Versteinert sind diese Haltungen: Unsere Traditionen sind so, ich wollte das gar nicht. Versteinert ­bedeutet: wenn sie doch nicht immer telefoniert hätte. Versteinert bedeutet: wenn sie sich doch nicht hätte scheiden lassen wollen.«

Meltem Şahin erinnert sich: »Nachdem ich zwei Stunden lang dieses Gedicht angehört hatte, war ich tief deprimiert und hatte acht dieser Zeichnungen fertiggestellt.« Eine Zeichnung zeigt vier Betonklötze mit männlichen Gesichtszügen. Daneben stehen die Zeilen: »Es stehen jetzt ­genug Frauennamen auf der Tafel. Lasst uns aus diesem tödlichen Kreis aussteigen.«

Seit Anfang des Jahres wurden ­offiziellen Zahlen zufolge bereits 180 Frauen ermordet. Dies dokumentiert die Plattform »Kadın cinayetleri durduracağız« (Wir werden Frauenmorde stoppen). Ein digitales Archiv zählt und dokumentiert die Fälle. Klickt der Benutzer auf einen weiblichen Namen, erscheinen Angaben zu Opfer und Täter, das Datum, der Ort und die Umstände der Tat.

Dem Gedenken der Ermordeten ist auch die Ausstellung verpflichtet. Im Katalog erinnern Meltem Şahin und Elvin Eroğlu mit Zeichnungen, Fotografien und Zitaten an neun ermordete Frauen. Şahin hat sich vor allem mit der Biographie der Studentin Pinar Gültekin beschäftigt. ­Gültekin wurde im vergangenen Jahr in der Provinz Muğla ermordet, aus der auch Şahin kommt. »Der Mörder hat sie in einen Hinterhalt gelockt, erst bewusstlos geschlagen, dann erwürgt, verbrannt und verscharrt. Eine totale Vernichtung und gleichzeitig der Versuch, mit dem Geschehenen nicht zu tun haben zu wollen. Heute behauptet er vor Gericht, sie habe ihm gedroht, seiner Frau von ihrer Beziehung zu erzählen.«

Der Austritt aus der Istanbul-Konvention war in der regierenden ­Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) ­zunächst durchaus um­stritten. Doch mittlerweile hat sich die Position durchgesetzt, dass die Istanbul-Konvention den Frauen in der Türkei keinen Schutz biete. Die Übereinkunft sei angeblich viel zu lasch. Immer lauter werden autoritäre Maßnahmen gefordert. Die Kolumnistin Hilâl Kaplan wirbt in der regierungstreuen Tageszeitung Sabah offen für die Wiedereinführung der Todesstrafe für Mord. Deren ­Abschaffung war 2004 eine Voraussetzung für die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei.