Schnell nach Hause
Man kann die kühle und geschäftsmäßige Abwicklung als gutes Zeichen werten. Als die letzten 264 aus Afghanistan abgezogenen Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr am 30. Juni auf dem niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf eintrafen, war kein prominenter Politiker anwesend. Kein Tschingderassabumm, kein Heldenpathos – Militarismus steht derzeit in Deutschland nicht hoch im Kurs.
»Die Soldatinnen und Soldaten wollten so schnell wie möglich zu ihren Familien nach Hause«, rechtfertigte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) den Verzicht auf eine Zeremonie. Das mag stimmen, doch solche Wünsche dürften nicht ausschlaggebend gewesen sein. Die Zeremonie soll im August nachgeholt werden, doch offenkundig gibt es kein politisches Interesse, den bedeutendsten Auslandseinsatz der Bundeswehr der Öffentlichkeit mehr als unbedingt nötig in Erinnerung zu rufen.
Der Irrglaube, Demokratie sei ein nicht auf arme oder islamische Länder übertragbares Konzept, ist das größte Hindernis im Kampf gegen den Jihadismus.
Das deutsche Militär war seit Januar 2002 an der International Security Assistance Force beteiligt, die 2015 in die Mission Resolute Support zur Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Streitkräfte überging. Im Februar 2020 schloss die US-Regierung unter Donald Trump mit den Taliban das Agreement for Bringing Peace to Afghanistan, das den Truppenrückzug bis Mai 2021 vorsah, der nun mit geringer Verspätung vollzogen wurde. Da alle anderen Interventionsstaaten von der Luftunterstützung und Logistik der USA abhängig waren, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als ebenfalls abzuziehen. Doch wollten sie ohnehin selbst so schnell wie möglich nach Hause.
Der Rückzug ist de facto eine Kapitulation vor den Taliban. Die in der Nato-Ministererklärung vom 14. April genannten Kriegsziele aber wurden erreicht: »Al-Qaida und all denjenigen, die die Vereinigten Staaten am 11. September angegriffen haben, entgegenzutreten sowie Terroristen daran zu hindern, Afghanistan als Rückzugsgebiet zu nutzen, um uns anzugreifen.« Ob der Erfolg dauerhaft sein wird, ist freilich unklar; Gruppen wie der in Afghanistan präsente »Islamische Staat« könnten das Land erneut als Stützpunkt für den globalen Jihad nutzen. Aber die politische Botschaft ist eindeutig: Wenn Jihadisten sich darauf beschränken, daheim zu massakrieren, haben sie vom Westen wenig zu befürchten.
Es ist nicht ausgemacht, dass die Taliban den Krieg nun gewinnen werden. In Afghanistan bilden sich Milizen, auch Frauenmilizen, mit den Taliban verfeindete Warlords sammeln ihre Truppen und Russland, China, Pakistan, Indien und der Iran werden die vom Westen hinterlassene Lücke zu füllen versuchen. Doch ob Sharia-Staat oder Bürgerkriegsgebiet – die ohnehin nur wenigen Rechte und Bildungsmöglichkeiten, die die Afghaninnen und Afghanen derzeit haben, werden den Rückzug wohl nicht lange überdauern.
Die Maßnahmen zum Aufbau der Infrastruktur und des Bildungswesens sowie der Abhaltung von Wahlen – deren Manipulation dann hingenommen wurde – waren der Kollateralnutzen eines Krieges, der vor allem eine Bedrohung für den Westen abwenden sollte. Es entspricht daher nicht ganz der Wahrheit, wenn Kramp-Karrenbauer nun sagt, es sei ein »Fehler, dass wir den Eindruck vermittelt haben, wir könnten im Rahmen von nation building aus Afghanistan schnell einen Staat nach europäischem Vorbild machen«. Auch ohne die Taliban ist Afghanistan eine »Islamische Republik« wie Pakistan und der Iran – und daran hatte Deutschland großen Anteil.
Die USA suchten 2001 vor allem politische Unterstützung bei ihren Verbündeten. Die militärische Bedeutung der Bundeswehr im Afghanistan-Einsatz war immer gering. Die US-Regierung teilte ihr mit der Region um Mazar e-Sharif im Norden eines der ruhigsten Gebiete zu. Als die Taliban ihre Operationen dorthin ausweiteten, entsandten die USA eigene Kampftruppen. Die Bundeswehr sei »meistens nicht aktiv genug, um eine große Bedrohung für die Taliban darzustellen«, urteilte 2009 Anthony Cordesman, Militäranalytiker und Berater der US-Truppen.
Deutschland war jedoch federführend an der politischen Neuordnung beteiligt sowie an der Machtverteilung nach der Vertreibung der Taliban und der Ausarbeitung einer Verfassung. Das Ende 2001 nahe Bonn unterzeichnete Petersberger Abkommen, das eine Interimsregierung einsetzte, bekundete die »Dankbarkeit gegenüber den afghanischen Mudschaheddin, die (…) eine wesentliche Rolle im Kampf gegen Terrorismus und Unterdrückung gespielt haben und deren aufopferungsvoller Einsatz sie nun zu Helden des Dschihad und zu Vorkämpfern des Friedens, der Stabilität und des Wiederaufbaus ihrer geliebten afghanischen Heimat gemacht hat«. Die politische Neuordnung basierte also auf einer islamistischen Lüge.
Auch die Präambel der 2004 verabschiedeten Verfassung preist »Opfer, historische Kämpfe, Jihad«; die »Bewunderung für die höchste Position der Märtyrer« wird in ihr zur Grundlage der »Islamischen Republik« erklärt. Artikel 3 bestimmt: »In Afghanistan darf kein Gesetz dem Glauben und den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen.« Die Verfassung enthält auch Verpflichtungen auf Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte, doch stehen diese unverbunden neben islamischen politischen und gesellschaftlichen Vorschriften.
Dieses duale System sollte mit den Taliban verfeindete Islamisten zufriedenstellen, aber auch die Integration der »gemäßigten« Taliban erleichtern, um die man sich schon bemühte, kaum dass der Krieg begonnen hatte. Das war keine deutsche Idee, aber deutsche Politiker haben sich immer wieder besonders eifrig mit der Behauptung hervorgetan, dass Afghanistan »sich nicht als Vorzeigedemokratie nach unseren Maßstäben eignet«, wie es 2009 der damalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg exemplarisch formulierte.
Die Bundesanwaltschaft hat 2010 in der Treue zum islamischen Recht muslimische Rechtsgelehrte sogar übertroffen, als sie behauptete, dass »Obduktionen angesichts der gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten in Afghanistan ausgeschlossen« seien. Dabei vertreten fast alle muslimischen Rechtsgelehrten die Ansicht, dass Beerdigungsvorschriften zugunsten höherer Rechtsgüter zurückgestellt werden können und die Kriminalpolizei in Kabul nahm durchaus Obduktionen vor.
Für die als kulturelle Sensibilität daherkommende Ansicht der Bundesanwaltschaft gab es einen realpolitischen Grund. Am 4. September 2009 hatte der deutsche Oberst Georg Klein die Bombardierung zweier von den Taliban entführter Tanklastwagen angeordnet, mindestens 100 Zivilisten wurden getötet. Klein hatte den Vorschlag der US-Piloten abgelehnt, die um die Tanklastwagen versammelte Menschenmenge durch einen Tiefflug zu warnen. Er rechtfertigte den Angriff mit der Behauptung, es habe die unmittelbare Gefahr eines Anschlags mit den Tanklastwagen als fahrenden Bomben bestanden.
»Es war klar, dass die Lastwagen fest im Schlamm steckten, als sie getroffen wurden«, stellte hingegen General Stanley McChrystal, damals Kommandant der US-Streitkräfte und der Isaf-Truppen in Afghanistan, fest. Nach den Erfahrungen der ersten Kriegsjahre in Afghanistan und im Irak hatte die US-Militärführung strengere Einsatzregeln zum Schutz von Zivilisten durchgesetzt. Klein hat diese Regeln gebrochen und im Hinblick auf die angeblich vom Konvoi ausgehende unmittelbare Gefahr Vorgesetzte belogen.
Ein Kriegsverbrechen im juristischen Sinn war der Angriff wohl nicht, denn untersagt ist die Tötung von Zivilisten nur, wenn »als sicher erwartet« wird, dass sie »außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht« (Paragraph 11, Absatz 3 des Völkerstrafgesetzbuchs). Das Massaker widersprach jedoch dem deutschen Selbstbild, dem zufolge die Bundeswehrsoldaten so etwas wie bewaffnete Entwicklungshelfer sind, deren segensreiches Wirken leider immer wieder von US-amerikanischen Rambos gestört wird. Der Arbeitsauftrag für die Bundesanwaltschaft war daher nicht nur, Klein juristisch zu entlasten, sondern ihm zu bescheinigen, er habe alles richtig gemacht, und Ermittlungen zu hintertreiben.
Gäbe es ernsthafte Bestrebungen, sich mit dem deutschen Afghanistan-Einsatz auseinanderzusetzen, müsste der Fall noch einmal aufgerollt werden. Zur Kenntnis genommen werden müsste auch, dass nicht nur Cordesman der Bundeswehr mangelndes Engagement im Kampf gegen die Taliban bescheinigte. Denn so erfreulich dies aus antimilitaristischer Sicht zunächst erscheinen mag – es ließ von den Jihadisten bedrohte Zivilisten ohne den Schutz, der möglich gewesen wäre. Nun hat man nicht einmal den Anstand, die afghanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bundeswehr durch Evakuierung zu schützen. Das Innenministerium ziert sich bei der Visavergabe, zudem sollen sich die Gefährdeten auf eigene Kosten nach Deutschland durchschlagen, was schon in einigen Wochen unmöglich sein könnte.
Doch im politischen und journalistischen Establishment Deutschlands wurde der Einsatz nie ernsthaft diskutiert, das öffentliche Interesse ist bis heute gering. Auch die politische Strategie, alles für eine Integration vermeintlich gemäßigter Islamisten zu tun und auf Unterstützung gesellschaftlicher Demokratisierungsbestrebungen zu verzichten, wird selten in Frage gestellt. »Wir sollten keine Luftschlösser versprechen, etwa den Export von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wie in Europa«, forderte Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, in einem am Montag veröffentlichten Interview in der Süddeutschen Zeitung im Hinblick auf den Bundeswehreinsatz in Mali.
Tatsächlich wurde der Demokratisierungsprozess in Mali 2012 durch eine jihadistische Invasion aus Libyen unterbrochen. Der in Deutschland besonders vehement vertretene Irrglaube, Demokratie sei ein nicht auf arme oder islamische Länder übertragbares Konzept, ist das größte politische Hindernis im Kampf gegen den Jihadismus. Auch in Mali sollen nun Verhandlungen mit »gemäßigten« Jihadisten beginnen. Wer den Krieg politisch verloren gibt, wird früher oder später auch seine Truppen abziehen. Die »Helden des Jihad« wissen nun, dass sie nur warten müssen.