Militanz ist die kollektive Weigerung, so weiterzumachen wie bisher

Die tiefe Feindschaft gegen das Bestehende

Militanz findet im Alltag statt und nicht auf ritualisierten Events.
Disko Von

Juni 2021: In Berlin-Friedrichshain brennen Barrikaden in der Rigaer Straße, Ecke Liebigstraße. Diese sollen helfen, eine knapp 150 Meter lange, wie es in sozialen Medien hieß, »autonome Zone« zu verteidigen, in der sich das 1990 besetzte Haus in der Rigaer Straße 94 befindet, dem die Räumung droht. Die Barrikaden wurden errichtet, um eine Brandschutzbegehung zu verhindern (Feuer gegen Brandschutzbegehung). Rund eine Stunde halten Autonome die vorrückende Polizei mit Steinen und Feuerlöschern auf Abstand, ehe sie der Übermacht eines Räumpanzers und eines Wasserwerfers nachgeben müssen. Abends folgt eine Demonstration, es kommt zu Rangeleien mit der Polizei. Zwei Tage zuvor waren in Berlin-Marzahn Autos der Firma angezündet worden, die später die Brandschutzbegehung vornahm.

Bei der Bewertung solcher Aktionsformen ist sich die bürgerliche Öffentlichkeit schnell einig. Von der Springer-Presse bis zum Berliner SPD-Innensenator Andreas Geisel distanzieren sich alle vom Zertrümmern von Glasscheiben und sonstigen Schwerverbrechen. Dies seien lediglich Taten von Chaoten, die den liberalen Rechtsstaat und die freiheitliche demokratische Grundordnung zerstören wollten. Die Logik dahinter ist einfach. Hier: Toleranz, Gewaltfreiheit und Demokratie; dort: Dogmatismus, Militanz und Gewalttaten. Doch diese Gegenüberstellung, die auf der sogenannten Extremismustheorie gründet, über die Peter Nowak an dieser Stelle alles Wesentliche gesagt hat, passt nur schlecht zur Realität.

Militante Aktionen können derzeit keinen wirklichen Bruch mit der bestehenden Ordnung herbeiführen, sondern haben überwiegend symbo­lischen Charakter.

Zunächst gilt es bei der Frage der Militanz zwischen Angriffen auf Menschen und auf Sachen zu unterscheiden. Denn mit Bezug auf linke Militanz ist häufig von »Gewalt gegen Sachen« die Rede, einen gleichnamigen Straftatbestand gibt es allerdings nicht, er lautet Sachbeschädigung. Gewalt gegen Stüh­le, was soll das sein?

Medien und Behörden verstehen Gewalt jedweder Art, sofern sie nicht von Exekutivorganen ausgeübt wird, jedenfalls als etwas, das mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sei. Dieser idealistischen Vorstellung einer Gesellschaft, die weitgehend ohne Gewalt auskommen soll, steht die alltägliche Gewalt eben der Polizei und des Militärs, aber auch etwa der Psychiatrie gegenüber. Alle, die schon mehrmals die Miete nicht bezahlen konnten und verfolgt haben, wie Räumungen vonstatten gehen, alle, die bei einer Demonstration schon einmal das Tränengas der Polizei in die Augen bekommen haben, wissen, dass der demokratische Rechtsstaat regelmäßig auf Gewalt zurückgreift, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Sich gegen diese zu wehren und sie grundlegend zu verändern, ist Aufgabe linker Politik. Militanz kann ein überaus rationales Mittel hierzu sein, da sie sich, anders als andere Aktionsformen, nicht im kritischen Dialog mit der Staatsmacht zu »zivilem Ungehorsam« verflüssigen oder in einen erneuten »Aufstand der Anständigen« (Gerhard Schröder) integrieren lässt.

Militanz kann den Bruch mit der gegenwärtigen Gesellschaft verstärken, denn sie charakterisiert eine doppelte Ernsthaftigkeit. Zum einen wird durch militante Aktionen das Einverständnis mit der gegenwärtigen Gesellschaft unmissverständlich aufgekündigt: Militanz versagt jener Gesellschaft radikal die Komplizenschaft, die sich doch selbst durch alltägliche Gewalt auszeichnet und dabei zahlreiche Opfer fordert, von den Toten im Mittelmeer bis zu Obdachlosen in den Metropolen; sie hält die Differenz zu diesem schlechten Bestehenden aufrecht.

Zum anderen kann die radikale Linke durch militante Aktionen ihre in Teilen gepflegte und antrainierte Opferrolle ablegen, sie kann aufhören, die eigene Verwundbarkeit zu verherrlichen – und Momente generieren, die zei­gen, dass die herrschenden Verhältnisse selbst verwundbar sind. Militante Aktionen sind eine Möglichkeit, die Wahrnehmbarkeit linker Politik zu steigern und wenigstens für Momente aus einer bloß passiven Rolle herauszukommen.

Betrachtet man die Geschichte linker Militanz in der Bundesrepublik, zeigt sich, dass es politisch isolierte militante Aktionen nur selten gab. Von den Hausbesetzungen bis zu den Gipfelprotesten waren militante Auseinandersetzungen stets eingebettet in größere Proteste, die sich mit Forderungen an die Staatsmacht richteten und deren Gewaltmonopol nur selten grundsätzlich in Frage stellten. Ebenso verhielt es sich mit dem Konzept der Massenmilitanz der Anti-AKW-Bewegung oder den Protesten gegen die Startbahn West in Frankfurt am Main. Radikal, militant und durchaus erfolgreich ist es den Militanten mit ihren Aktionsformen gelungen, eigene Akzente zu setzen.

Davon abgetrennt muss der Großteil der Aktivitäten der bewaffneten Gruppen wie der Bewegung 2. Juni, der Roten Zora und vor allem der Roten Armee Fraktion betrachtet werden. Deren Aktionen wurden immer mehr zum De­saster, je weniger diese Gruppen mit diesen ihre vorgeblichen Adressaten zu erreichen suchten. Die Massenbasis, die sich im Zuge der Revolten der sechziger Jahre gebildet hatte, wurde immer weniger Bezugspunkt der bewaffneten Gruppen. Die Aktionen des bewaffneten Kampfs wurden somit ­mehr und mehr zu isolierten Akten der Selbstopferung – und dies zu einer Zeit, in der es durchaus die Möglichkeit gegeben hätte, sich verstärkt mit proletarischen und subproletarischen Milieus zu verbinden. Somit ist der bewaffnete Kampf in der Bundesrepublik in dieser Form sicherlich gescheitert und war in vielerlei Hinsicht auch illegitim. Es bleibt aber die Erinnerung an die Position der Negation, die er angenommen und auch gehalten hat.

Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen wäre es jedoch sicherlich falsch, anzunehmen, dass militante Aktionen die Gesellschaft substantiell verändern können. Sie können derzeit keinen wirklichen Bruch mit der bestehenden Ordnung herbeiführen, sondern haben überwiegend symbolischen Charakter; mehrheitlich männliche Akteure versuchen mit solchen Aktionen ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Ohne politische Strategie ist Militanz nicht einmal Taktik, sondern bestenfalls individueller Voluntarismus.

Wer sich derzeit dennoch für militante Aktionen entscheidet, steht geschichtlich vor einem Novum. Militanz in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist erstmalig nicht geprägt von der Erfahrung eines gesellschaftlichen Umbruchs oder ernst­zunehmender Revolutionserwartung. Ebenso ist Massenmobilisierung für militante Politik gegenwärtig äußerst schwierig – trotz rühmlicher Ausnahmen aus autonomen Gruppen, der Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative« oder auch Wald- oder Grubenbesetzungen durch Gruppen der radikalen Klimabewegung.

Vielleicht besteht die revolutionärste Form der Militanz gegenwärtig eben nicht darin, Autos anzuzünden oder Scheiben einzuschlagen, sondern in der kollektiven Weigerung, so weiterzumachen wie bisher. So verstanden ist Militanz der Anfang davon, aufzuhören, das Spiel weiter mitzuspielen. Sabotage durch Verweigerung könnte eine Form der Militanz sein, die diese zu einem Aspekt des Alltagslebens von Menschen werden lässt. Diese baut gesellschaftliche Basisloyalitäten ab und lässt Gesetzesuntreue gewöhnlich werden.

Eine solche eher untergründige Form der Militanz, die Thomas Ebermann im Anschluss an den Philosophen Herbert Marcuse als »Subversion« bezeichnet, kann in der Besetzung leerstehender Wohnung für wohnungs- und obdachlose Menschen bestehen. Sie kann darin bestehen, für arme Menschen, die sich Lebensmittel nicht leisten können, klauen zu gehen oder Schutzehen einzugehen und Pässe zu fälschen, um Menschen vor Abschiebungen zu schützen.
Eine solche verinnerlichte Militanz im Alltag drückt eine tiefere Feindschaft gegen das Bestehende aus, als relativ angepasst zu leben, vor Vorgesetzten oder Professorinnen zu buckeln und in heroischem Gestus als Selbstbestätigung an ritualisierten, militanten Aktionen – wie alljährlich am 1. Mai – teilzunehmen und Militanz so lediglich als einmaliges Event zu begreifen.