Viele Belarussen fliehen ins Ausland, wo sie auf Hilfe der Diaspora angewiesen sind

Raus aus Belarus

Immer mehr Belarussen müssen wegen der Repressalien des Regimes ins Ausland fliehen. Mitglieder der Diaspora organisieren für sie Hilfe.

Als in den fünfziger Jahren südlich von Minsk die Stadt Salihorsk gegründet wurde, diente das vor allem einen Zweck: dem Abbau von Kali, um daraus Düngemittel herzustellen. Das ehemalige Kombinat Belaruskali ist bis heute einer der größten Industriebetriebe des Landes und exportiert in die ganze Welt. Fast 20 000 Arbeiter sind hier angestellt. Im August vorigen Jahres zeigten sie ihre Macht: für zwei Tage legten sie den Großteil der Minen still. »Die Mitarbeiter von Belaruskali konnten die Gesetzlosigkeit, die Folter an unschuldigen Zivilisten in den Gefängnissen nicht ignorieren«, sagt Maksim G.* der Jungle World. Er war Mitglied des Streikkomitees, das unter anderem die Freilassung von Gefangenen ­forderte.

Bald schlugen die Machthaber zurück. »Durch Drohungen und Druck von der Unternehmensleitung, den Behörden und der Polizei kehrten viele Arbeitnehmer an ihren Arbeitsplatz zurück«, ­erinnert sich G. Mitglieder des Streikkomitees seien von der Polizei vorgeladen, einige seien festgenommen und ihre Wohnungen durchsucht worden. Anfang dieses Jahres schließlich entschied sich G., Belarus zu verlassen. »Der Druck auf das Streikkomitee nahm weiter zu. Es wurden manipulierte Strafverfahren eingeleitet, Menschen zu Haftstrafen verurteilt«, sagt er. Derzeit lebt er als Flüchtling in Deutschland.

Solche Fälle gab es viele, seit vor einem Jahr die Proteste gegen die belarussische Regierung begannen. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch Tausende Menschen verließen das Land, versuchten, nach Litauen oder Polen auszureisen. Polen begann schon im August vorigen Jahres, humanitäre Visa für Belarussen auszustellen. Ein solches Visum erhielt etwa kürzlich die belarussische Sprinterin Kristina Timanowskaja. Nachdem sie bei den Olympischen Spielen in Tokio Kritik an ihren Trainern geäußert hatte, sollte sie gezwungen werden, nach Belarus zurückzukehren. Doch sie fand am Montag Zuflucht in der polnischen Botschaft.

Natalia Dziabisava erreichten schon im Herbst vergangenen Jahres über das Internet Nachrichten von Menschen, die aus Belarus geflohen waren und Hilfe brauchten. Wie viele in Deutschland lebende Belarussen hatte die in Koblenz lebende Frau früher wenig Kontakt zu anderen Belarussen und Belarussinnen in der Diaspora. »Doch diese Tragödie hat uns alle zusammengebracht. Nicht nur die Diaspora in Deutschland, sondern in der ganzen Welt«, sagt sie der Jungle World. Daraus entstand im August 2020 der Verein Razam, ein Zusammenschluss von vor allem belarusstämmigen Menschen in Deutschland. Regionalgruppen versuchen, mit öffentlichen Aktionen Bewusstsein für die Situation in Belarus zu schaffen. Dabei sammeln sie auch Geld. Seit einigen Monaten organisiert Dziabisava im Rahmen des Vereins finanzielle Hilfe für belarussische Flüchtlinge in der Ukraine, in Zusammenarbeit mit der dort ansässigen NGO Free Belarus Center.

»Am Anfang waren es vor allem Einzelpersonen, jetzt sehen wir immer mehr Menschen, die mit ihren ganzen Familien aus Belarus fliehen«, sagt Polina Brodik vom Free Belarus Center in Kiew der Jungle World. Viele nutzen die Ukraine als Transitland, bevor sie in die EU übersiedeln, andere bleiben für immer. Ihre Organisation bietet psychologische und juristische Unterstützung, auch berufliche Hilfe etwa für geflohene Journalisten. Dank des Geldes aus Deutschland kann die NGO auch für einen Monat eine Unterkunft entweder in einer Wohngemeinschaft, in Hostels oder für Familien in Wohnungen anbieten.

Ein anderes Thema ist die Sicherheit der Flüchtlinge. »Die Ukraine ist immer noch Mitglied des multilateralen Auslieferungsabkommen mit ehemaligen Sowjetstaaten«, sagt Brodik. Deshalb droht Belarussen in der Ukraine möglicherweise die Auslieferung. »Das ist ein brennendes Thema. Es gibt in Belarus keine unabhängige Justiz, es gibt Folter und die Todesstrafe«, so Brodik. Ihre Organisation setzt sich deshalb für Schutzgarantien für die in der Ukraine lebenden Belarussen ein. Viele befürchten auch Racheakte des belarussischen Regimes. Am Dienstag wurde Witali Schischow, der eine andere belarussische Exilgruppe leitete, die Flüchtlinge unterstützt, in einem Park in Kiew erhängt aufgefunden. Die Hintergründe sind unklar, doch die Polizei teilte mit, sie ermittele auch ­wegen Mordverdachts.

Dass das belarussische Drama Teil einer globalen Flüchtlingskrise ist, zeigt sich in Litauen. Die belarussische Regierung begann offenbar im Juli, vermehrt Menschen aus dem Irak die Einreise zu erlauben und diese an die EU-Grenze zu schleusen. 4 000 Menschen wurden in diesem Jahr bereits an der Grenze festgenommen, der ­litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis warf Belarus vor, Flüchtlinge für »hybride Kriegsführung« zu instrumentalisieren. Waren Belarussen noch willkommen, wird jetzt an der litauischen Grenze mit EU-Hilfe ein mehrere Hundert Kilometer langer Stacheldrahtzaun gebaut und die EU-Behörde Frontex mobilisiert.

* Name von der Redaktion geändert.