Der Berliner Untersuchungsausschuss legt seinen Bericht zum Weihnachtsmarktanschlag vor

Keine Schuldigen und viele offene Fragen

Der Berliner Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Auf 1 235 Seiten listet dieser auf, welche Fehler der Sicherheitsbehörden den größten islamistischen Terroranschlag hierzulande erst möglich gemacht haben.
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Am 19. Dezember 2016 raste ein mit 25 Tonnen Baustahl beladener Lastkraftwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Am Steuer saß der islamistische Terrorist Anis Amri, ein Anhänger der Terrororganisation »Islamischer Staat«. Er hatte zunächst den LKW-Fahrer erschossen, ermordete dann mit dessen Fahrzeug elf weitere Menschen und verletzte 67.

Vier Jahre lang hat ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses versucht, herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. In 64 Sitzungen wurden insgesamt 97 Zeuginnen und Zeugen befragt, darunter Polizisten, Politiker und sogenannte Verfassungsschützer. Ergebnisse der ebenfalls eingesetzten Untersuchungsausschüsse des Bundestags und des nordrhein-westfälischen Landtags fanden ebenso Beachtung wie knapp 1 200 Akten des Landes Berlin.

Die Berliner Polizei habe Amris Ge­fährlichkeit unterschätzt, weil man annahm, dessen Konsum und Verkauf von Drogen seien nicht mit einem radikalislamischen Glauben vereinbar.

Man habe »keinen einzelnen Schuldigen« gefunden und »keinen Einzelfehler aufgedeckt, der für sich genommen so gewichtig war, dass er den Anschlag erklären konnte«, sagte der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) bei der Vorstellung des Berichts. Trotzdem habe der Ausschuss »zahlreiche Fehler festgestellt«, und »die Summe dieser Fehler und Versäumnisse« habe den Anschlag erst möglich gemacht. Diese Fehler sind nun nachlesbar im 1 235 Seiten umfassenden Abschlussbericht des Berliner Untersuchungsausschusses, der allerdings auch viele Fragen offen lässt.

Beispielsweise die nach der Mitverantwortung des Verfassungsschutzes: Im Untersuchungsausschuss des Bundestages sagte Hans-Georg Maaßen (CDU), der zum Zeitpunkt des Anschlags Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz war, der Anschlag wäre »vermeidbar gewesen, hätte nicht stattfinden müssen«. Der Fall Amri sei jedoch ein »reiner Polizeifall« gewesen, mit dem seine Behörde höchstens am Rande befasst gewesen sei.

Dafür kritisierte ihn im Berliner Untersuchungsausschuss Torsten Akmann (SPD), der seit Dezember 2016 Berliner Innenstaatssekretär ist. Wer behaupte, Amri sei ein reiner Polizeifall gewesen, habe die Fakten nicht zur Kenntnis genommen. Einer dieser Fakten trägt sogar die Unterschrift Maaßens. Als Verfassungsschutzpräsident hatte dieser 2016 ein sogenanntes Behördenzeugnis unterzeichnet, das die Berliner Polizei über Amris Gefährlichkeit aufklären sollte. Angefordert hatte es das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen.

Ein Problem der Sicherheitsbehörden sei »das Bestehen von insgesamt zu vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten in Berlin und Nordrhein-Westfalen« gewesen, heißt es in dem Abschluss­bericht. Da Amri in der Zeit vor dem Anschlag regelmäßig seinen Aufenthaltsort verlegte – von Berlin nach Nordrhein-Westfalen und zurück, aber auch an Orte in weiteren Bundesländern –, schoben verschiedene Behörden den Fall ebenfalls hin und her.

Die Übergaben liefen nicht immer reibungslos. So hatten beispielsweise die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden die Berliner gebeten, Amri zu observieren, als dieser am 18. Februar 2016 mit einem Reisebus auf dem Weg in die Hauptstadt war. Nach Darstellung der Polizei Nordrhein-Westfalen bestand das erste Problem bereits darin, dass die Berliner Kollegen telefonisch zunächst nicht erreichbar gewesen seien. Als der Einsatzbefehl aus Nordrhein-Westfalen dann doch noch rechtzeitig durchkam, wurde er nicht richtig befolgt. »Tarnung vor Wirkung«, habe der Polizeiführer aus Nordrhein-Westfalen angeordnet, Amri sollte also heimlich beobachtet werden. Stattdessen wurde er von der Berliner Polizei kontrolliert. Da sein Ausweispapier auf einen anderen Namen (Ahmed Almasri) als seine Fahrkarte (Ahmad Zaghloul) ausgestellt war, nahmen die Polizisten ihn zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung mit auf die Wache. Ab diesem Zeitpunkt war Amri gewarnt und versuchte aktiv, sich der Observation der Behörden zu entziehen.

Almasri und Zaghloul sind nur zwei von insgesamt elf Identitäten, unter denen Amri bei unterschiedlichen deutschen Behörden registriert wurde. Teilweise hat Amri so versucht, seine Spuren zu verwischen – immerhin war er zuvor bereits in Tunesien und Italien straffällig geworden. Allerdings habe er dem Berliner Untersuchungsausschuss zufolge eigentlich nur fünf Identitäten genutzt. Die anderen sechs seien durch unterschiedliche Schreibweisen bei den verschiedenen Behörden entstanden.

Auf ein Versagen der Berliner Sicherheitsbehörden deutet auch hin, dass das Landeskriminalamt Berlin am 15. Juni 2016 die Observation von Amri beendete. Nach eigenen späteren Angaben unterschätzte die Berliner Polizei damals die Gefährlichkeit des Attentäters, weil man annahm, dessen Konsum und Verkauf von Drogen seien nicht mit einem radikalislamischen Glauben vereinbar. »Unter Berücksichtigung der Überforderung mit dem Arbeitspensum entsteht der Eindruck, dass die Ermittler*innen angesichts der Drogentätigkeit des Attentäters geradezu ­darauf hofften, dass er in das Drogenmilieu ›abgleitet‹, damit er nicht mehr in die Zuständigkeit des Berliner Staatsschutzes fällt«, schreiben Benedikt Lux und June Tomiak, die für die Grünen in dem Untersuchungsausschuss saßen, in ihrem dem Bericht angehängten Sondervotum.

Die beiden kritisieren ein »Fokusproblem der Berliner Polizei auf ›links‹«. Weil der damalige Bürgermeister und Innensenator Frank Henkel (CDU) mehr Kräfte für die Räumung der Kneipe »Kadterschmiede« in der Rigaer Straße benötigt habe, hätte dem Staatsschutz das Personal gefehlt, um gleichzeitig die islamistische Szene der Hauptstadt im Blick zu behalten. Das Personal, um Amri weiterhin zu observieren und den größten islamistischen Anschlag der Bundesrepublik zu verhindern, sei vorhanden gewesen, man hätte es nur anders einsetzen müssen. Das ist besonders brisant, weil das Landgericht Berlin jene Räumung im Nachhinein für rechtswidrig erklärte. Kritiker halten die Räumung für ein Wahlkampfmanöver von Henkel, der ein entschlossenes Vorgehen gegen die linke Szene demonstrieren wollte (Jeder Vorwand ist recht).

Offen lässt der Bericht auch, wie es hierzulande üblich ist, die Frage nach Mittätern und Unterstützern Amris.