Die Festlichkeiten zu »1 700 Jahre jüdischem Leben in Deutschland«

Trotz alledem

Die Festlichkeiten zu »1 700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland« sollen den Alltag von Jüdinnen und Juden hierzulande bekannter machen, aber auch dem immer noch grassierenden Antisemitismus entgegenwirken. Doch das Interesse der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft ist gering.

Seit 1 700 Jahren ist jüdisches Leben auf dem Gebiet dokumentiert, das seit sehr viel kürzerer Zeit Deutschland ­genannt wird. Vermutlich lebten Jüdinnen und Juden schon früher dort, aber im Jahr 321 sind sie erstmals urkundlich bezeugt, nämlich in einem Edikt des Kaisers Konstantin, dem zufolge auch Juden in den Stadtrat berufen werden dürfen. Dieses an die Stadträte von Köln gerichtete, aber allgemein formulierte Edikt nahm ein Verein zum Anlass, 2021 zu einem Festjahr zu ­erklären. Der Verein »321–2021: 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« verkündete Ende Juli, dass das Festjahr unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier bis in den Sommer 2022 verlängert wird, um die pandemiebedingt ausgefallenen Veranstaltungen nachholen zu können.

Insgesamt handelt es sich um 1 000 Projekte, darunter Konzerte, Filmscreenings, Vorträge, Theater, Sukkot-XXL-Feiern und einen vielbeachteten Podcast. #2021JLID heißt das von Mirna Funk, Shelly Kupferberg und Miron Tenenberg abwechselnd moderierte Format, in dem wöchentlich Jüdinnen und Juden von sich und ihrem Leben erzählen. Gäste waren bislang unter anderen die Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, Mirjam Wenzel, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, der Moderator Michel Friedman und der Schauspieler Christian Berkel.

Seit der Shoah stellt sich die Frage, ob man als Jüdin oder Jude hierzulande überhaupt noch leben kann – und wenn ja, wie.

Anlässlich des Festjahrs erschien eine Sonderbriefmarke mit dem Aufdruck »Chai – Auf das Leben!« und der Homunculus-Verlag veröffentlichte das Buch »Wir sind da!« von Uwe von Seltmann, das die 1 700jährige Geschichte jüdischen ­Lebens erzählt und die gegenwärtige Situation mit ihren Hoffnungen und Gefahren beschreibt, indem wiederum Jüdinnen und Juden selbst zu Wort kommen.
»Ziel des Festjahres ist«, schreibt der Verein auf seiner Website, »jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.« Denn Antisemitismus war hierzulande zwar immer präsent, wird aber mittlerweile erneut offen und ungehemmt gezeigt, nicht nur im Internet, sondern auch auf der Straße, bei den »Querdenken«-Demonstrationen oder bei antiisraelischen Kundgebungen von Islamisten.

Wie aber soll man ein Festjahr begehen angesichts des grassierenden An­tisemitismus und der langen Geschichte von Judenhass und Gewalt, von Vertreibung und Vernichtung? Nicht allein die Shoah überschattet diese 1 700 Jahre, sondern auch die zahlreichen Pogrome und Gewaltakte der Jahrhunderte zuvor – ebenso wie der Terroranschlag in Halle an der Saale, der brutale Übergriff vor der Synagoge in Hamburg, der kürzlich vereitelte islamistische Anschlag in Hagen sowie die Brandstiftungen im Mai.

Wie feiert man also diese Geschichte, wenn Jüdinnen und Juden weiterhin an Leib und Leben gefährdet sind? Jüdisches Leben musste und muss sich behaupten, sich wehren, dafür kämpfen, sein zu dürfen. Das Festjahr ist deshalb auch ein Akt der Selbstbehauptung, bei dem ausgerufen wird: Wir sind da! Es ist ein Versuch, die Kontinuität überzubetonen, ohne die Diskontinuität zu vergessen. Denn eine ununterbrochene jüdische Geschichte gibt es nicht. Nicht in Deutschland.

Schon im fünften Jahrhundert verlieren sich die Spuren jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Erst um 900 ist die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden wieder nachweisbar. In den Städten Speyer, Worms und Mainz, die seit Ende Juli als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt sind, blüht im zehnten Jahrhundert das Judentum am Oberrhein wieder auf, die jüdischen Gemeinden in den drei Städten bildeten einen Schum genannten Verbund. Aber auch dort, wie vermutlich allerorts, gab es in den folgenden Jahrhunderten Vertreibungen, Pogrome oder Plünderungen; häufig war die Agitation für die Kreuzzüge der Auslöser. Diese Geschichte ist geprägt vom christlichen Antijudaismus, einer Erscheinungsform des Antisemitismus, deren Fortbestand heutzutage weitgehend unbeachtet bleibt, seit er von den Leitungen der Amtskirchen nicht mehr geduldet wird.

Die rechtliche Gleichstellung von Juden mit anderen Bürgern war in Deutschland erst Ende des 19. Jahrhunderts erreicht – und hielt sich nur kurze Zeit. Erneut grassierte der Antisemitismus, der schließlich zum »Dritten Reich« führte und im Zivilisationsbruch Auschwitz mündete. Seitdem stellt sich die Frage, ob man als Jüdin oder Jude hierzulande überhaupt noch leben kann – und wenn ja, wie.

Der Dichter Leyb Rosenthal schrieb 1943 im Ghetto von Vilnius ein jiddisches Lied. Darin heißt es: »Mir lebn eybik, mir zaynen do«. Uwe von Seltmann weist in seiner nach diesem Lied benannten Monographie »Wir sind da!« darauf hin, dass »eybik« im Jiddischen eine doppelte Bedeutung hat: Es heißt »ewig« und »trotzdem«. »Wir leben trotzdem.« Nicht wegen, sondern trotz alledem, trotz Deutschland.

»Wir leben trotzdem, wir werden leben und erleben und schlechte Zeiten überleben, wir leben trotzdem, wir sind da«, sang die im Juli verstorbene Shoah-Überlebende Esther Bejarano in ihrer Übersetzung dieses Lieds, das sie am Ende ihrer Konzerte spielte.

Ein solches Trotzdem könnte und sollte dieses Festjahr prägen. Zumindest ist dieses Trotzdem das Grundmotiv des Buchs »Wir sind da!«, das die Geschichte von Jüdinnen und Juden auch als eine der Umwelt abgetrotzte darstellt. Statt die lange Geschichte des Antisemitismus zu erzählen und Jüdinnen und Juden dabei als Objekte des Wahns zu beschreiben, schildert von Seltmann aktives jüdisches Leben, Jüdinnen und Juden als Subjekte und jüdische Widerständigkeit. Dabei muss man nicht erst ins Warschauer Ghetto schauen. Es reicht ein Blick nach Frankfurt am Main, wo Jüdinnen und Juden 1985 im Schauspielhaus die Bühne besetzten, um die Uraufführung des antisemitischen Theaterstücks »Der Müll, die Stadt und der Tod« von Rainer Werner Fassbinder zu verhindern; oder ein Blick wenige Hundert Meter weiter in die Paulskirche, in der Ignatz Bubis 1998 Martin Walser demonstrativ den Applaus verweigerte, nachdem dieser von Auschwitz als »Moralkeule« gesprochen hatte.

Von Anfang an wurden Befürchtungen laut, dass der Aufarbeitungsweltmeister Deutschland das Festjahr nutzen könnte, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen und zur »Wiedergutwerdung« (Eike Geisel) zu gratulieren. Die Bundesregierung beteiligt sich mit über 20 Millionen Euro an den Kosten des Festjahrs und hat es dadurch in dieser Größenordnung wohl überhaupt erst möglich gemacht. Man will das Bild einer gegen Antisemitismus wehrhaften Demokratie abgeben. Im deutschen Alltag ist das nicht selbstverständlich. Am Schutz jüdischer Gemeinden beispielsweise wird nicht selten gespart.

In seiner Eröffnungsrede zum Festjahr verschwieg Bundespräsident Steinmeier Gewalt und Verfolgung nicht. Er beschwor keine bruchlose Geschichte, sondern richtete den Blick auch auf »Demütigung, Ausgrenzung und Entrechtung«. Steinmeier sprach sogar vom »Zivilisationsbruch der Shoah«. Dennoch: Die Passivkonstruktionen fallen auf. »Fast immer«, so Steinmeier, »wurden Jüdinnen und Juden als Fremde, zumindest als Andere gesehen.« Nur von wem? Das bleibt unausgesprochen. Das entspricht nicht ganz dem »ehrlichen« Blick auf die Geschichte, den der Schirmherr selbst einforderte.

Immerhin forderte Steinmeier auch, dass »wir« dem gegenwärtigen Antisemitismus »entschieden entgegentreten«. Mit Blick auf den Anschlag in Halle, die »Querdenker«-Bewegung und die antiisraelischen Demonstrationen im Mai wäre entschiedene Verfolgung ­antisemitischer Delikte wohl das Mindeste, doch kommt man hierzulande selten über Mahnwachen hinaus. Und ganz im Gegensatz zu dieser Forderung nach dem entschlossenen »Wir« scheint die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft kein großes Interesse an dem jüdischen Festjahr zu zeigen. Eine Mehrheitsgesellschaft, die es mit dem Kampf gegen Antisemitismus ernst meinte, würde dieses Festjahr jedenfalls mit mehr Elan und Interesse wahrnehmen.