Macrons Agenda 2030
Während der Präsident Frankreichs künftige Rolle in der Welt bespricht, wandert der Blick der Kamera gelegentlich über das Publikum. Über den Coronamasken sind aufmerksame Augenpaare zu erkennen, die Zuhörer wollen die Botschaften des Redners verstehen, aber allmählich schwindet ihre Konzentration. Am Ende nimmt das Staatsoberhaupt dankbar 30 Sekunden Beifall entgegen. Ein Gefühl von Aufbruch kann die von der Regierung freigegebene Aufzeichnung nicht vermitteln.
Am 12. Oktober präsentierte Emmanuel Macron im Élysée-Palast ein 30 Milliarden Euro umfassendes Investitionsprogramm für die kommenden fünf Jahre. Mit diesem großen Abenteuer, sagte der Präsident, »bereiten wir 2030 vor«. So lautete auch der Titel der Veranstaltung, der auf einer Leinwand im Hintergrund eingeblendet wurde: »France 2030«.
Im Einzelnen enthält der Plan zehn mehr oder weniger konkrete Ziele: die Entwicklung eines französischen Small Modular Reactor (SMR, kleiner modularer Atomreaktor) bis zum Ende des Jahrzehnts, zwei Fabriken für die Produktion von »grünem« Wasserstoff, Dekarbonisierung der Industrie, zwei Millionen Elektrofahrzeuge, ein emissionsarmer Flugzeugtyp. Weitere Milliarden gehen in den Lebensmittel- und Gesundheitssektor, in die Kultur und in die Raumfahrt.
An erster Stelle stehe die Energiegewinnung. Hier legte Macron seinen Schwerpunkt auf die Nukleartechnik. Sie müsse neu erfunden werden. Während des Vortrags wechselt die Projektion. Nun steht auf der Leinwand »Réinventer le nucléaire« auf grünem Hintergrund. Frankreich habe mit seinen 200 000 Beschäftigten in der Atomindustrie das Potential dafür. Modulare Kleinreaktoren seien das Ziel, denn sie seien »viel sicherer« als die derzeitigen Meiler und würden weniger radioaktiven Abfall hinterlassen.
Hierzulande übersetzten FAZ und Tagesspiegel Macrons Devise so: »Die Kernkraft neu erfinden«. Die FAZ korrigierte später zu »Atomkraft neu erfinden«. Um die Kernkraft neu zu erfinden, müsste man freilich zum ersten Schöpfungstag zurückgehen und den Gott bitten, das Design der Naturkräfte nochmal zu bearbeiten. Hier liegt eine beachtliche Verwechselung von Entdecken und Erfinden vor.
Abgesehen von solchen stümperhaften Lesarten fragt sich, was Macron mit dem nuklearen Komplex tatsächlich vorhat. Die versprochene Milliarde für neue Reaktormodelle, die bisher nur auf Powerpoint-Folien existieren, ist angesichts des dringenden Finanzbedarfs der französischen Nuklearindustrie eine eher geringe Größe. Mit mindestens 40 Milliarden Euro ist der AKW-Betreiber Électricité de France (EDF) verschuldet. Den Schuldenberg kann das Unternehmen nicht abtragen, weil es seine Altreaktoren generalüberholt, um deren Laufzeiten zu verlängern. Der Aufwand für dieses mehrjährige Projekt namens grand carénage (etwa: großes Kielholen) wird auf 55 bis 90 Milliarden Euro geschätzt.
Hinzu kommen die kostspieligen Probleme auf den Baustellen für die sogenannten Europäischen Druckwasserreaktoren (EPR) in Flamanville, im finnischen Olkiluoto und nun auch bei einem der beiden in Betrieb gegangenen EPRs in China, ganz zu schweigen von dem riskanten Megaprojekt, im britischen Hinkley Point zwei weitere EPRs zu errichten. Über die Gegenwart und Zukunft dieser Macron zufolge »historischen Industrie« kein einziges Wort verloren zu haben, dürfte im nuklearen Sektor nicht besonders gut angekommen sein. Ist Macrons Agenda 2030 vielleicht sogar der Auftakt für eine Abwicklung?
Keineswegs. Einschließlich der europäischen Coronahilfen verfügt die französische Regierung nun über 130 Milliarden Euro für Konjunktur- und Investitionsprogramme. Doch die EU-Kommission weigert sich bisher, Atomenergie als »nachhaltig« einzustufen, was die Verwendung ihrer Gelder einschränkt. Allerdings werden es die Haushaltsexperten in der französischen Regierung wohl verstehen, so mit den verschiedenen Töpfen zu jonglieren, dass der ärgste Hunger der Nuklearisten wieder einmal gestillt werden kann. Die Beschwörung der kleinen Zukunftsreaktoren dient dem Präsidenten dazu, die reale Welt des Nuklearen in einen dichten Nebel zu hüllen. Die Neuerfindung der Atomkraft beginnt anscheinend mit alten Tricks.