Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU bleiben die Ermittlungsergebnisse lückenhaft

Längst nicht vorbei

Vor zehn Jahren enttarnte sich die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Viele Fragen sind bis heute offen.

Jahrelang hatte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) unbehelligt mordend und bombenlegend durch Deutschland ziehen können. Am 4. November 2011 enttarnten sich dessen Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe selbst. Bis dahin hatten sie zehn Menschen ermordet. Ein Jahrzehnt später zeigt sich der Bundesinnenminister, Horst Seehofer (CSU), zufrieden. Anfang der Woche teilte er auf einer Pressekonferenz mit, es sei zwar nicht möglich gewesen, alle Fragen im Zusammenhang mit dem NSU restlos zu beantworten. Doch »die Handlungsempfehlungen für die Bereiche Polizei, Justiz, Nachrichtendienste und Demokratieförderung sind weitestgehend um­gesetzt«.

Eine realistische Bilanz zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU müsste deutlich negativer ausfallen. Die Taten und die Verstrickung der Behörden hatten solche Ausmaße, dass vor zehn Jahren für einen Moment ernsthafte Reformen unumgänglich schienen. Zum Teil wurde über tiefgreifende Umstrukturierungen bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden diskutiert und sogar die Abschaffung des Verfassungsschutzes kam zur Sprache. Letzteres forderte nicht nur die Linkspartei, sondern damals sogar die Grünen.

Anteilnahme und Solidarität erlebten die NSU-Opfer in der Zeit vor dem 4. November 2011 kaum.

Daraus wurde bekanntlich nichts. Ein Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU übernahm Hans-Georg Maaßen die Führung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, er hatte das Amt bis 2018 inne. 2015 wurde eine Reform des Verfassungsschutzes vorgenommen, die substantiell wenig veränderte. In Maaßens Amtszeit und darüber hinaus war das Budget des Inlandsgeheimdienstes stetig angestiegen, bis auf 476 Millionen Euro im Jahr 2021.

Auch die Aufklärung des NSU-Falls ist zehn Jahre später nicht annähernd abgeschlossen, es steht zu befürchten, dass dies nie vollständig geschehen wird. Bis heute werden Akten unter Verschluss gehalten; so entschied noch im Mai dieses Jahres die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen, als geheim eingestufte NSU-Akten 30 weitere Jahre vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Zuvor hatte eine Petition mit Zehntausenden Unterzeichnern die Freigabe der Akten gefordert, die Fraktionen der SPD und der Linkspartei im Landtag unterstützten diese Forderung.

Zahlreiche Komplizen und Unterstützer der Terroristen sind bis heute nicht ermittelt worden. Inzwischen dürften sie sich kaum noch Sorgen machen, doch noch enttarnt beziehungsweise angeklagt zu werden. Bereits 2017 zog der zweite Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestags das Fazit, dass eine »strukturelle Aufhellung des breiteren Unterstützernetzwerks« nicht erfolgt sei. Dabei sei »deutlich ersichtlich, welche Protagonisten und Netzwerke an deren einzelnen Tat- und Aufenthaltsorten Kontakt zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten«. Der Vorsitzende des Ausschusses, der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger, bilanzierte die Arbeit des Ausschusses folgendermaßen: »Unsere Zweifel, dass der NSU nur ein Trio war, sind nicht kleiner geworden.«

Neben Zschäpe, die 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wobei das Gericht die besondere Schwere der Schuld feststellte, erhielten nur vier Mit­angeklagte Haftstrafen. Es laufen noch weitere Ermittlungsverfahren gegen neun Personen, die für das Trio Wohnungen oder Papiere bereitgestellt haben sollen. Doch auch diese stellen wohl nur einen Teil des Unterstützernetzwerks dar. Einst hatte die Bundesanwaltschaft eine Liste mit 129 Kontaktleuten des Kerntrios aufgestellt, einige von ihnen waren V-Leute.

Dass weitere Täter frei herumlaufen, davon sind auch Angehörige der Opfer fest überzeugt,. Zu ihnen zählt Semiya Şimşek, Tochter von Enver Şimşek, der im Jahr 2000 in Nürnberg von Mundlos und Böhnhardt ermordet worden war. In Nürnberg begann der Terrorfeldzug des NSU. Im Juni 1999 war in einer Bar in der Nähe des Nürnberger Hauptbahnhofs eine Bombe explodiert, der Betreiber wurde schwer verletzt. Kurz darauf wurden in der Stadt die ersten zwei Morde des NSU begangen, an Enver Şimşek, der am Rand einer Straße Blumen verkaufte, und an Abdurrahim Özüdoğru, der in seiner Änderungsschneiderei erschossen wurde.

Besonders in Nürnberg gibt es Hinweise darauf, dass die Täter Unterstützer hatten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Nürnberger Nachrichten hatten nach dem Auffliegen des Trios ein Bekennerschreiben des NSU erhalten. Solche Briefe hatte Zschäpe nach der Enttarnung ihrer Komplizen an verschiedene Zeitungsredaktionen, Parteien oder muslimische Vereine verschickt. Doch war das Schreiben, das an die Nürnberger Nachrichten ging, als einziges unfrankiert. Jemand muss es persönlich eingeworfen haben. Zschäpe kann allerdings zu dem Zeitpunkt nicht in Nürnberg gewesen sein.

Die Briefe enthielten Bekennervideos, in denen sich der NSU zu den Morden und weiteren Taten wie dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße bekannte. Darin hieß es: »Der Nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz ›Taten statt Worte‹. Solange sich keine grundlegenden Änderungen in der Politik, Presse, Polizei und Meinungsfreiheit vollziehen, werden die Aktivitäten weitergeführt.«

Erst dadurch kam ans Licht, was zuvor nur wenige vermutet und kaum laut geäußert hatten: Hinter einer Reihe von Morden an Gewerbetreibenden mit einer Migrationsgeschichte, die sich in den Jahren zuvor ereignet hatten, steckten Neonazis. Die Ermittlungsbehörden waren dieser Möglichkeit bis dahin kaum nachgegangen; ihre Ermittlungskommissionen zu diesen Fällen hießen »Soko Halbmond« oder »BAO Bosporus« und zielten auf einen familiären und »parallelgesellschaftlichen« Hintergrund der Taten, auf Bezüge zum türkisch-kurdischen Konflikt, zu Drogenkriminalität, Schutzgelderpressung und »Türken-Mafia«. Alles, nur nicht auf Rassismus und deutsche Rechtsextreme.

Die Medien stellten diese Vermutungen nicht in Frage, einige titelten mit dem Begriff »Döner-Morde«. Kaum jemand interessierte sich dafür, was die Angehörigen der Ermordeten zu sagen hatten. Zum Teil wurden diese selbst von den Ermittlungsbehörden verdächtigt, überwacht und immer wieder verhört. »Wir durften nicht Opfer sein, wir hatten nicht das Recht, Opfer zu sein«, fasste Abdulkerim Şimşek seine Erfahrungen zusammen, als er im September 2020 zum 20. Jahrestag des Mords an seinem Vater im Bayerischen Rundfunk interviewt wurde.

Anteilnahme und Solidarität erlebten die NSU-Opfer in der Zeit vor dem 4. November 2011 kaum. Dagegen demonstrierten Angehörige der Opferfamilien und Unterstützer schon 2006 unter dem Transparent »Kein zehntes Opfer« in Kassel und Dortmund. Sie forderten Aufklärung und verwiesen schon damals auf die Möglichkeit, dass die Täter aus der Neonaziszene stammen könnten. Diese Vermutung wurde offenbar auch der Polizei mitgeteilt. Die Sicherheitsbehörden gingen dem kaum nach, obwohl alle anderen Ermittlungsrichtungen zu nichts führten.

Warum? Darauf lassen einige Beispiele aus der Ermittlungsarbeit schließen, wie die »Operative Fallanalyse« des Landeskriminalamts Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007. Darin heißt es: »Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verankert ist.«

In den vergangenen Jahren gingen rechtsterroristische Anschläge in Deutschland auch von Tätern aus, die nicht so fest in organisierte Nazistrukturen eingebunden waren wie das NSU-Trio. Das galt etwa für die Täter von Halle und Hanau. Auch hinter dem »NSU 2.0« soll den Ermittlungsbehörden zufolge ein Einzeltäter stecken. Dieser hatte keine Anschläge verübt, sondern mehr als 100 Drohmails und Bombendrohungen an verschiedene Personen verschickt verschickt, unter anderem an die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die auch NSU-Opfer vertrat, an die jetzige Bundesvorsitzende der Linken, Janine Wissler, und die Berliner Kabarettistin İdil Baydar. Manche Briefe waren mit »SS-Obersturmbannführer« unterschrieben, andere mit »Wolfzeit«. Sie enthielten Ausdrücke wie »Abfallprodukt«, »Volksschädling« und explizite Morddrohungen. Die Adressen der Empfängerinnen hatte der Absender unter anderem von verschiedenen Polizeistationen abgefragt. Lange wurde deshalb ermittelt, ob der Täter Komplizen innerhalb der Behörden hatte. In der Folge wurden unter anderem in Hessen Dutzende rechtsextreme Polizistinnen und Polizisten enttarnt. Doch nun gab die Staatsanwaltschaft Frankfurt Entwarnung: Man habe keine Hinweise darauf finden können, dass der Täter von Polizeibeamten unterstützt wurde. Hinter »NSU 2.0« soll ein Einzeltäter stecken, der 53jährige Alexander M. Er habe bei Polizeistationen angerufen, sich als Polizist ausgegeben und sei so an die Daten gelangt. Am Donnerstag vergangener Woche wurde er wegen Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung und des Verbreitens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen angeklagt.