Paul W. Massings Studie »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« in einer Neuauflage

Vor der Vernichtung

Paul W. Massings bahnbrechende Studie »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« von 1949 ist in einer Neuauflage erschienen. Die Untersuchung zur Geschichte der deutschen Judenfeindschaft arbeitet die politische Funktion des Ressentiments heraus und fragt nach seinen ökonomischen Voraussetzungen.

Paul W. Massings »Rehearsal for Destruction: A Study of Political Antisemitism in Imperial Germany« erschien zuerst 1949 als vierter Band der vom Institut für Sozialforschung im US-Exil herausgegebenen »Studies in Prejudice«. Es ist die einzige der in den USA entstandenen empi­rischen Arbeiten des Instituts, die dieses nach der Rückkehr aus dem Exil der Öffentlichkeit in Deutschland selbst zugänglich machte. Übersetzt von Felix Weil erschien die Schrift 1959 unter dem Titel »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« mit einem Vorwort von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der vom Institut bei der Europäischen Verlagsanstalt herausgegebenen Reihe »Frankfurter Beiträge zur Soziologie«; 1986 folgte die Taschenbuchausgabe im selben Verlag. Dieser hat die Studie jetzt neu aufgelegt und um ein lesenswertes Nachwort des Historikers Ulrich Wyrwa ergänzt. Für alle an der Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus Interessierten ist sie immer noch eine unverzichtbare Lektüre.

Massing verfolgt die Entwicklung des modernen Antisemitismus in Deutschland von 1871 bis 1914. Ursprünglich sollte die Studie auch das »Dritte Reich« umfassen, ein ambi­tionierter Plan, der zum Bedauern des Institutsleiters Max Horkheimer aufgegeben werden musste. Der erste Teil des Titels der US-amerikanischen Originalausgabe, »Rehearsal for Destruction« (Probe zur Vernichtung), kann noch als Hinweis auf das Vorhaben verstanden werden, die Geschichte des Antisemitismus bis zum Nationalsozialismus nachzuverfolgen.

Die bösartigste Sorte von Antisemitismus verbreiteten Lehrer, Studenten, Industrie- und Handelsangestellte, untere Beamte, Freiberufler und Anhänger der verschiedensten Sekten: Mitglieder von Lebensreform­bewegungen, Roggenbrot-Enthusiasten, ›Zurück-zur-Natur‹-Schwärmer und Gegner der Vivisektion.«
Paul Massing

1902 im pfälzischen Grumbach geboren, studierte Massing unter anderem in Frankfurt am Main und in Paris Ökonomie und Soziologie und arbeitete anschließend bis 1931 in Moskau am Internationalen Agrarinstitut. In Deutschland war er im kommunistischen Widerstand aktiv und wurde 1933 von der Gestapo verhaftet, gefoltert und im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Seine Erfahrungen verarbeitete er 1935 in dem unter dem Pseudonym Karl Billinger in einem französischen Verlag erschienenen Roman »Schutzhäftling 880: aus einem deutschen Konzentrationslager«.

1939 emigrierte er in die USA. Im selben Jahr erschien dort sein Buch »Hitler is No Fool«. Darin warnte er vor der rassistischen und antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus, die der Rechtfertigung des deutschen Griffs nach der Weltmacht diente. In den vierziger Jahren gehört Massing zum engeren Mitarbeiterkreis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia University und war an den Studien zum Antisemitismus in der US-amerikanischen Arbeiterschaft sowie zu faschistischen Agitatoren beteiligt. Später lehrte Massing politische Soziologie an der Rutgers University in New Brunswick im US-Bundesstaat New Jersey, bevor er nach Deutschland zurückkehrte, wo er 1979 in Tübingen starb.

Der Bezugspunkt der »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« ist das Scheitern der revolutionären politischen Kräfte in Deutschland. Diese Erfahrung war nicht nur für Massing, der sich in der Zeit der Moskauer Prozesse von den Vorstellungen der KPD gelöst hatte, biographisch bedeutsam, sie war auch die Prämisse der vom Kreis um Horkheimer entwickelten Kritischen Theorie der Gesellschaft. Horkheimer und Adorno wenden sich in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe auch im Hinblick auf die deutsche Schuldabwehr gegen jeden Versuch einer historischen Ableitung, der »die Fatalität des Geschehenen im Begriff nochmals wiederholt« und sich die Geschichte als vermeintlich Unabwendbares zu eigen macht. Die Geschichte des Antisemitismus beschreibe Massing entsprechend nicht geistesgeschichtlich als deutschen Sonderfall oder Unfall, der so geschichtlich exorziert würde, sondern er verorte sie in der »eigentlich po­litisch-sozialen Sphäre«.

Die politische Kapitulation des ­liberalen Bürgertums durchzieht thematisch die gesamte Darstellung. Mit der widersprüchlichen Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit dem antisemitischen Ressentiment beschäftigt sich Massing in ­gesonderten Kapiteln. Die Integration jener politischen Kräfte in das obrigkeitsstaatliche System und die Industrialisierung, die »einer vorindustriellen politischen Struktur aufgepfropft« worden sei, seien wesentlich für das Wirkungspotential des Anti­semitismus sowie des Antiliberalismus, des Rassenmythos und des ­Ethnonationalismus in Deutschland.

»Gründe für die Dynamik des ­Antisemitismus«, schreibt Massing, »können nur in der Dynamik der Gesellschaft gefunden werden.« Stringent und begrifflich klar beschreibt er nicht nur, wie sich der Antisemitismus in den politischen Konstellationen des deutschen Kaiserreichs entwickelte, er belegt auch dessen Verflechtung mit dem Nationalismus und die Rolle der entstehenden Kulturindustrie. Insbesondere liefert er eine wegweisende Beschreibung der gesellschaftlichen Funktion des Judenhasses und ihres Wandels. Zum einen wurde der ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts virulente Antisemitismus der christlich-sozialen Bewegung des Hofpredigers Adolf Stoecker, der die soziale Frage zur »Judenfrage« umdeutete, um 1880 von einem völkischen Antisemitismus überlagert, welcher die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse als »Zersetzung« und »Verjudung« denunzierte. Zum anderen trat der politische Antisemitismus im ersten deutschen Nationalstaat als Massenbewegung auf, zuerst als Mittel aristokratischer Politik, dann als sich verselbständigendes Moment demokratisierender Massenpolitik und Massenkultur. Deren Reservoir bildeten nicht die traditionell orientierten Schichten, das betont Massing in seiner brillanten Charakterisierung der völkischen Bewegung, sondern Milieus, die bereits unwiderruflich von gesellschaftlicher Modernisierung, Säkularisierung und den Widersprüchen einer unvollendeten Emanzipation geprägt waren. »Die bösartigste Sorte von Antisemitismus verbreiteten Lehrer, Studenten, Industrie- und Handelsangestellte, untere Beamte, Freiberufler und Anhänger der verschiedensten Sekten: Mitglieder von Lebensreformbewegungen, Roggenbrot-Enthusiasten, ›Zurück-zur-Natur‹-Schwärmer und Gegner der Vivisektion.«

Der Antisemitismus und die Rassenlehre der politisch im Kaiserreich letztlich erfolglosen völkischen ­Bewegung gingen im gesamtgesellschaftlichen Konsens eines imperialistischen Nationalismus auf. Zugleich wurden antisemitische Ressentiments als Privatsache behandelt und als ein Gemeinschaft stiftender »kultureller Code« (Shulamit Volkov) akzeptabel.

Die Sozialpsychologie des modernen Antisemitismus bleibt bei Massing zwar unterbelichtet, allerdings muss seine Studie als komplementär zu anderen Arbeiten des Instituts verstanden werden, insbesondere zur »Dialektik der Aufklärung« und zu den übrigen Bänden der »Studies in Prejudice«, darunter auch Leo Löwenthals und Norbert Gutermans Studie »Falsche Propheten«, die in diesem Jahr ebenfalls neu aufgelegt wurde (Jungle World 7/2021). Gegenwärtig neigt man in der Antisemitismusforschung und der Öffentlichkeit dazu, psychologische, mikrosoziologische und kommunika­tive Faktoren des Antisemitismus zu betonen und die politische Funktion sowie die politisch-ökonomischen Entstehungsbedingungen zu vernachlässigen. Antisemitismus, daran erinnert Massings Studie, »aktualisiert sich als Mittel der Politik« (Horkheimer/Adorno). Der heutige Wert von Massings Pionierarbeit liegt, wie Ulrich Wyrwa in seinem Nachwort betont, nicht in einer in Wissenschaft und Feuilleton geschichtsblind beschworenen »Aktualität«, sondern in ihrer Geschichtlichkeit und erweist sich in kritischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart.

Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Hrsg. von Ulrich Wyrwa. CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2021, 364 Seiten, 28 Euro