Das bisschen Mobbing
Der kürzlich von Bari Weiss bekanntgegebene Plan, eine neue Universität zu gründen, die University of Austin in Texas, hat die Verteidigung gegen akademische cancel culture auf eine neue Ebene gehievt. Die ehemalige Redakteurin der New York Times konnte für ihre aufklärerischen Prinzipien verpflichtete Hochschule zahlreiche Opfer von Verleumdungskampagnen als Lehrende gewinnen, etwa den Philosophen Peter Boghossian, der im September nach jahrelangen Anfeindungen seine Professur an der Portland State University aufgab, und die Evolutionsbiologin Heather Heying, die 2017 gemeinsam mit ihrem Partner, dem Evolutionsbiologen Bret Weinstein, vom Campus des Evergreen State College in Olympia gemobbt worden war. Weiss’ Pläne sind ein kostspieliger Lösungsvorschlag für ein Problem, das sich nur noch schwerlich leugnen lässt.
Um herauszufinden, wie es in Deutschland um das »geistige Klima an den Universitäten« bestellt ist, nahm das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Deutschen Hochschulverbands und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung eine Online-Umfrage vor, an der rund 1 000 Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter teilnahmen. 40 Prozent von diesen bekundeten, eine nicht spezifizierte political correctness schränke sie in der Lehre ein. Auf die Frage »Was sollte an der Universität erlaubt sein?« antworteten 34 Prozent der Teilnehmer mit »Rassenforschung betreiben« und 26 Prozent mit »Israel als Staat ablehnen«.
Deutsche Universitätsangehörige arbeiten auf Ausschlüsse hin, obwohl sie diese ansonsten bei jeder Gelegenheit beklagen.
Suggestive Fragen und mit Tabubruch kokettierende Antworten wie diese sind jedoch irreführend: Warum Critical Whiteness keine Rassenforschung ist, hat noch niemand plausibel dargelegt, zudem wird Studierenden an Philosophischen Fakultäten seit Jahrzehnten nahegelegt, den jüdischen Staat unter Berufung auf Edward W. Said und Judith Butler »abzulehnen«.
Fallbezogene Aussagen und Handlungen von Universitätsangehörigen geben genauere Auskunft darüber, wie es manche Geistes- und Sozialwissenschaftler mit der Wissenschaftsfreiheit halten. Dazu zählen Stellungnahmen zum Fall der britischen Philosophin Kathleen Stock, die im Oktober nach mehrjähriger Drangsalierung ihre Professur an der University of Sussex aufgab. Sie zeigen, wie das Brandmarken einer Person jede Diskussion der Sache moralisch verstellt.
Im Schweizer Online-Magazin Geschichte der Gegenwart schwang die Philosophin Jule Govrin sich zu der Bemerkung auf, Stock habe »in den vergangenen Jahren beständig behauptet, Menschen, die trans sind, würden nicht existieren, da nur biologisches Geschlecht ›real‹ sei«. Für diese Unterstellung führte sie keine Belege an, die im Falle einer »beständig« getätigten Behauptung doch stapelweise zur Verfügung stehen müssten. Nachweisfrei heißt es bei Govrin weiter, Stock setze »sich aktiv dafür ein, dass die Rechte von Menschen, die nicht geschlechterkonform leben, eingeschränkt werden«. Zudem habe sie »die Existenz dieser Menschen in Frage« gestellt und sie gar »als reine Phantasie« bezeichnet: »Gender, so der Kerngehalt, gebe es nicht, denn Geschlecht sei durch Biologie bestimmt.«
Spätestens hier wird klar, dass Govrin bestenfalls über rudimentäre Kenntnisse der Ansichten ihrer Kollegin verfügt, denn selbstverständlich gibt es gender auch Stock zufolge: Geschlechterrollen, wie sie Frauen auferlegt werden, damit sie zum Beispiel unentgeltlich soziale Aufgaben übernehmen; bekanntlich war diese Einsicht prägend für die Neue Frauenbewegung. Was Stock und ihre Kolleginnen Sophie Allen, Jane Clare Jones, Holly Lawford-Smith, Mary Leng und Rebecca Reilly-Cooper verneinen, ist, dass es eine angeborene »Geschlechtsidentität« gebe. Dass diese Feministinnen heutzutage genötigt sind, sich pleonastisch als »genderkritisch« zu bezeichnen, liegt an der völligen Sinnentstellung eines Konzepts, das ja eigens zu dem Zweck formuliert wurde, Geschlechterrollen dafür zu kritisieren, dass sie Menschen eine Identität aufnötigen.
Die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky sagte über den Fall Stock im Bayerischen Rundfunk, es sei »schwer zu beurteilen, wer geht da wie zu weit«. Stock sei ihr »als durchaus fundamentalistisch argumentierend« bekannt – als hielten sich anonyme Morddrohungen gegen die lesbische Feministin Stock, von denen diese berichtet hat, und Kritik an der esoterischen Rede von »Geschlechtsidentität« die Waage, und als bedürften systematisch von misogynen Aktivisten bedrängte Frauen in Großbritannien einer an Butler geschulten Schlichterin aus Deutschland, die ihnen nahelegt, dass sie, wenn sie »fundamentalistisch« argumentieren, mit schuld daran seien, wenn sie belästigt werden.
Noch übertroffen hat dies Andrea Geier. Die an der Universität Trier tätige Literaturwissenschaftlerin und Genderforscherin sagte im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur, natürlich könne Stock nicht abgesprochen werden, »dass sie sich bedroht fühlt«. In Anbetracht dessen, dass die britische Polizei Stock riet, ihre Privatwohnung mit Überwachungskameras auszustatten, erscheint das als Verharmlosung, denn Geier fügte sogleich an, es müsse »unbedingt umgekehrt auch anerkannt werden, dass sich Studierende bedroht fühlen, wenn jemand ihr Existenzrecht in Frage stellt« – als hätte Stock jemals gesagt oder nahegelegt, dass Transmenschen umgebracht werden dürften.
An der vielfach getätigten Unterstellung, Stock spreche anderen Menschen das »Existenzrecht« ab, zeigt sich, dass als progressiv geltende deutsche Universitätsangehörige ein lockeres Verhältnis zu Wirklichkeit und Logik pflegen: Sie leiten aus der Ablehnung der Vorstellung einer angeborenen Geschlechtsidentität erst die Leugnung der Existenz derjenigen, die sich so identifizieren, ab – und daraus wiederum ein angebliches Absprechen von deren Lebensrecht.
Geier betonte in dem Gespräch zudem, Hochschulen müssten »auch ein moderierter Raum« sein. Einige dürften das als Aufruf verstehen, aus identitätspolitischen Ideologemen Vorschriften dafür zu machen, wann die Redefreiheit von Wissenschaftlern einzuschränken sei. In Großbritannien nehmen Universitätsangehörige es nunmehr selbst in die Hand, unliebsame Kolleginnen zu mobben. Die Kriminologin Jo Phoenix bereitet derzeit eine Klage gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber, die Open University in Milton Keynes, vor, weil diese sie nicht vor transaktivistischer Verleumdung geschützt habe. Phoenix berichtet, ihr sei vom Universitätspersonal mitgeteilt worden, sie sei aufgrund ihrer genderkritischen Arbeit so unerträglich wie »der rassistische Onkel«, der zu Weihnachten mit am Familientisch sitze, obendrein habe man ihr nahegelegt, die hauseigene psychologische Beratungsstelle aufzusuchen.
Während deutsche Universitätsangehörige, die sich als politisch links verstehen, über Möglichkeiten zur Moderation der universitären Debatte sinnieren, sich – wie im Fall Stock geschehen – an Unterschriftenkampagnen gegen lesbische Feministinnen beteiligen, Gerüchte streuen und auf Ausschlüsse hinarbeiten, die sie ansonsten bei jeder Gelegenheit beklagen, organisieren sich in Großbritannien linke Kolleginnen, um der akademisch modernisierten Misogynie der Gender-Identity-Ideologen Paroli zu bieten. Organisationen wie Woman’s Place UK oder die Zeitschrift The Radical Notion, beide von linken Frauen gegründet, machen auf das systematische Herausdrängen unliebsamer Frauen aus dem Universitätsbetrieb aufmerksam, ebenso das Collective of Early-career Feminist Academics (CEFA), eine genderkritische Neugründung aus dem akademischen Mittelbau.
Diejenigen, die das Phänomen cancel culture noch für eine Erfindung der politischen Rechten halten, können solche Zusammenschlüsse nicht erklären, zumal diese im Gegensatz zum Vorstoß von Weiss ausdrücklich aus der Linken kommend für Wissenschaftsfreiheit eintreten. Sie entstanden in dem Wissen, dass es nicht nur darum geht, den Verfall bürgerlicher Bildungsideale und -institutionen aufzuhalten, den vor allem Liberale und Konservative beklagen, sondern auch darum, autoritäre Kontrolle und Machtmissbrauch zu verhindern.
Für viele verfemte Akademikerinnen stehen ihr Lebensunterhalt und ihre psychische Unversehrtheit auf dem Spiel. Das zu kritisieren, ist das Mindeste. Zumal eine Linke, die für die Garantie stritte, mit einem Studium nicht pseudorevolutionäre Moral, sondern formale Kompetenzen und Qualifikation zu erwerben, tatsächlich etwas Neues wäre.