Sophie Calles illustriertes Buch »Wahre Geschichten«

Nichts als die Wahrheit

Die Künstlerin Sophie Calle stellt in ihrem Buch »Wahre Geschichten« kurze Texte und Fotografien nebeneinander, die von ihrem Leben erzählen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichten und der Bilder wird just durch dieses Zusammenspiel durchkreuzt.

Geraten einzelne Kunstgattungen durch die Entstehung neuer künstlerischer Formen in die Krise, versichern sich Erstere ihrer Existenzberechtigung immer wieder auch entweder durch Negation oder Integration der Letzteren. In der Reflexion der ihnen fremden Medialität weisen sie die eigene desto stärker aus, je eher es ihnen gelingt, jene fremde Medialität in der eigenen aufzuheben. Die Reinheit von Medium, Material und Ausdrucksform, die Kunstkritik und Kunsttheorie bis in die späten sechziger Jahre noch als Signum insbesondere der modernen Kunst verstanden, zweifelten die künstlerischen Strömungen bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch an. So hat beispielsweise die Literatur auf die Entstehung und Verbreitung des Films durch Nachahmung seines ästhetischen Prinzips, der Montage, reagiert, indem sie etwa Kamerabewegungen literarisch verarbeitete.

Anders als der Film hat die neuaufkommende Fotografie auch gegenständlich Eingang in die Literatur gefunden, und das bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, zum Beispiel in Georges Rodenbachs Roman »Bruges-la-Morte« (»Das tote Brügge«) von 1892, der vielleicht erste, in dem die Fotografien nicht bloß dem Zweck dienten, das Geschriebene zu illustrieren. Hat die Verschränkung von literarischem Text und Fotografie sich in der zeitgenössischen Literatur als eigenes Genre etabliert – in der deutschsprachigen etwa bei Rolf Dieter Brinkmann, W. G. Sebald oder Alexander Kluge –, so auch deshalb, weil in ihnen die Fotografie neben dem Text als eigenständiges künstlerisches Medium zur Geltung kam und sie ihres bloß illustrativen Zwecks endgültig enthoben und zum inte­gralen Moment der Literatur selbst wurde.

Calles »Wahre Geschichten« stehen vielleicht weniger in der Tradition der Literatur, die mit authentischen Fotografien gearbeitet hat, als in der des surrealistischen Fotoromans.

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