Ein Besuch der Gedenkstätte für Ernst Thälmann in Hamburg

Der rote Teddy von Hamburg

Arbeiterführer, Stalinist und Antifaschist: Das Gedenken an den im KZ Buchenwald ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann bleibt voller Widersprüche.
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Ein unscheinbares Wohnhaus in Hamburg-Eppendorf in der Nähe des Universitätsklinikums. Autos rauschen im Sekundentakt vorbei. Eisiger Nieselregen fällt vom wintergrauen Nachmittags­himmel. In einem Ladenlokal an der Ecke des sanierten Altbaus in der viel befahrenen Tarpenbekstraße befindet sich die Gedenkstätte Ernst Thälmann. Ein Straßenschild, eine silberne Tafel, ein Stolperstein zwischen den Gehwegplatten und eine an der Hauswand angebrachte Messingplakette mit dem Porträt eines Mannes – ernste Miene und Elbsegler-Mütze auf dem Kopf –, darunter eine bronzene Rose, erinnern daran, dass hier Ernst Thälmann mit seiner Familie wohnte. 1886 wurde er in Hamburg geboren und war von 1925 bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1933 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Die Nationalsozialisten inhaftierten ihn 1933 und ermordeten ihn 1944 im KZ Buchenwald. Die genauen Todesumstände sind allerdings bis heute nicht geklärt.

»Wir verehren Thälmann wegen der großen Entbehrungen, die er für seine Überzeugungen auf sich genommen hat.« Rainer, Gedenkstätte Ernst Thälmann

In einem Glasschaukasten vor dem Gebäude hängen Flyer der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die als Nachfolgeorganisation der in der Bundesrepublik 1956 verbotenen KPD gilt. Auf Plakaten an der Eingangstür steht »Thälmann. Deutschlands unsterblicher Sohn« und »Wählt Kommunisten«. Wer hier hinein will, muss klingeln. Es öffnet ein korpulenter Mann mit schütterem weißem Haar und buschigen Augenbrauen. »Die Tür bleibt zu, damit keine Nazis reinkommen«, sagt er mit hamburgischer Sprachmelodie und bittet lächelnd herein.

Von Thälmann infiziert
Im Innern erblickt man eine Thälmann-Büste und eine rote Flagge, darauf steht in gelben Lettern »Proletarier aller Länder vereinigt euch«. Die Luft im Raum ist trocken und abgestanden, Heizkörper gluckern, es riecht nach alten Büchern und vergilbtem Papier. Nur wenig Tageslicht dringt durch die Fensterscheiben herein. »Ich bin von Thälmann infiziert«, sagt der ältere Mann, der sich Rainer nennt, seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. Er ist Vorstandsmitglied des Kuratoriums, das die Gedenkstätte in Eigenregie betreibt. Der 70jährige zieht an seiner E-Zigarette. Er sei in der Lerchenstraße in St. Pauli aufgewachsen. Sein Nachbar habe Thälmann gekannt und Rainer mit Anekdoten über den sagenumwobenen »Teddy«, wie ihn alle nannten, gefüttert. Lässig atmet Rainer den Tabakdampf aus.

Dann erzählt er: Sozialisiert im Arbeitermilieu, sei er schon in jungen Jahren mit kommunistischem Gedankengut in Berührung gekommen. Nach der Volksschule habe er eine Ausbildung in einer Reederei im Hamburger Hafen gemacht, sich später mit verschiedenen Hilfsarbeiten durchgeschlagen und sei dann in einem Unternehmen gelandet, für das er Alarmanlagen installiert habe. »Meine Rente ist beschissen«, sagt er und nimmt einen Schluck aus einer Sprudelwasserflasche. »Ich stand jahrelang auf schwarzen Listen«, behauptet er, »wegen meiner politischen Gesinnung wollte mich keiner beschäftigen.« Seine wilden Jahre habe er in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gehabt: »Ich bekam das Tränengas kaum aus den Klamotten.« Heute sei er Verdi-Mitglied und setze sich für Abrüstungspolitik ein. DKP-Mitglied sei er im Gegensatz zu vielen anderen Mitgliedern des Kuratoriums aber nicht. Sein großes Hobby sei die historische Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg. Gerne schaue er sich die Fußballspiele des FC St. Pauli am Millerntor an und engagiere sich im dortigen Museum. Stolz erzählt er, wie die Prawda, die der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation nahestehende Zeitung, über die Thälmann-Gedenkstätte in Hamburg berichtete. Dazu zeigt er Fotos vom 75. Jahrestag der Befreiung, an dem er auf dem Roten Platz in Moskau eine Fahne mit einer Thälmann-Silhouette hochhält.

Rainer ist einer, der nicht wie so viele Altachtundsechziger den von Rudi Dutschke propagierten Marsch durch die Institutionen antrat. Er ist einer, der sich nicht anpasste, sondern radikal oppositionell blieb. Unikate wie er, die die Hamburger Morgenpost mal als »Hamburgs letzte Kommunisten« ­betitelte, sind es, die die Thälmann-Gedenkstätte betreiben.

Schatzkammer des Widerstands
1969 gründeten ehemalige Hamburger Weggefährten Thälmanns die Gedenkstätte in seinem ehemaligen Wohnhaus. Rainer macht keinen Hehl daraus, dass bis 1990 Gelder aus der DDR dafür geflossen seien. 1978 schaute sogar der damalige Generalsekretär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnjew, vorbei. Weil es seit dem Ende der DDR keine finanzielle Unterstützung mehr gibt, ist die Gedenkstätte, die einzige ihrer Art in Westdeutschland, von Spenden abhängig und bangt stets um ihre Existenz.

Wer sich hier in Ruhe umschaut, kann eine Fülle kommunistischer Insignien und Devotionalien entdecken: einen Karl-Marx-Teller, einen Wimpel der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Lenin-Porträts, KPD-Parteifahnen, eine braune Bluse der Roten Armee, einen Thälmann-Wandteppich. Man kann hier knallrote Thälmann-T-Shirts oder das Kommunistische Manifest auf Plattdeutsch kaufen. Die Ausstellung zeichnet den Weg des Hafenarbeiters Thälmann nach: von der Revolution von 1918/1919, dem Hamburger Aufstand 1923, seinem Aufstieg zum KPD-Vorsitzenden bis zu seiner Gefangennahme kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 und seiner Ermordung im KZ. Originale Zeitungsartikel, Schwarzweiß-Fotos von Streiks und Barrikadenkämpfen, Briefauszüge und Reden, Flugblätter der SPD und der KPD sind hier versammelt. Fotos von ermordeten Kommunistinnen und Kommunisten geben Opfern des Nationalsozialismus ein Gesicht. Es geht um die Antifaschistische Aktion, den Rotfrontkämpferbund, die Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Notstandspolitik. Um den Aufstieg des Nationalsozialismus, den Arbeiterwiderstand während des Zweiten Weltkriegs und die internationale Solidaritätsbewegung »Free Thälmann«.

»Das ist eine Schatzkammer«, sagt Rainer beim Gang durch das von einer einzigen Glühbirne beleuchtete fensterlose Archiv, wo sich der Staub auf Protokollen der Hamburger Bürgerschaft, Prozessakten und Zeitungen aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ablagert. Es wirkt so, als stünde an diesem Ort die Zeit still, als herrschte hier noch die gleiche Unordnung wie vor 50 Jahren. Relikte einer längst vergangenen Epoche verwaisen in einsamen Ecken, und doch spürt man Leidenschaft und die Hoffnung, dass sich der Klassenkampf auch im 21. Jahrhundert noch einmal entfachen lässt. Nicht oft klingelt es an der Tür. Nur wenige unangemeldete Besucherinnen und Besucher verirren sich hierher. Alle paar Wochen kämen Gruppen aus Ostdeutschland, erzählt Rainer, die er und seine Genossen durch die Gedenkstätte führten. Ab und zu suchen Geschichtsstudierende hier nach Quellen, die sie in öffentlichen Archiven nicht finden können. Mehrmals wöchentlich wartet Rainer während der Öffnungszeiten auf Besuch. Wenn niemand komme, sagt er, stöbere er gerne selbst herum und stoße dabei immer wieder auf unentdeckte Zeugnisse der Arbeiterbewegung, in die er sich stundenlang vertiefen könne.

Arbeiterführer und Stalinist
Ernst Thälmann, geboren und aufgewachsen in Hamburg, gilt vielen Historikerinnen und Historikern als ambivalente und umstrittene Persönlichkeit. »Viele Arbeiter sahen ihn als Macher, als wahren Proletarier«, sagt Knud Andresen, der an der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte über die Geschichte der Arbeiterbewegung forscht. Das verhalf Thälmann zu einem raschen Aufstieg in der KPD. Mit Unterstützung Josef Stalins wurde er 1925 zu deren Vorsitzendem und organisierte die Partei straff nach bolschewistischem Vorbild, führte sie im Reichstag an und kandidierte 1925 und 1932 für das Amt des Reichspräsidenten. Thälmann vertrat die Sozialfaschismusthese, wonach die Sozialdemokratie der linke Flügel des Faschismus sei; die KPD erklärte sie zu ihrem Hauptfeind in der Weimarer Republik. »Thälmann trieb die Stalinisierung der KPD voran«, sagt Andresen. »Mit seiner Festnahme 1933 wurde er zu einem Symbol des antifaschistischen Widerstandes und zu einem der bekanntesten Gefangenen der Nazis.« Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte seit 1936 das nach ihm benannte Thälmann-Bataillon gegen die Faschisten.

»Man sollte Thälmanns gedenken, aber mit ihm auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus.« Knud Andresen, Historiker

»Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Thälmann vor allem in der DDR ideologisch vereinnahmt«, sagt Andresen, »er war kein ausgeprägter Theoretiker und konnte so leichter zur Projektionsfläche werden.« Davon zeugte beispielsweise die Benennung der Pionierorganisation der DDR nach Ernst Thälmann, die der DDR-Jugendorganisation FDJ angegliedert war. Bis heute gibt es in Ostdeutschland zahlreiche Denkmäler, die Thälmann als Held hochleben lassen. Zuletzt entfachte eine »künstlerische Kommentierung« des Ernst-Thälmann-Denkmals in der Greifswalder Straße in Berlin und die Verhüllung einer Thälmann-Statue in Weimar Diskussionen. In Berlin sangen Gegnerinnen und Gegner der Kommentierung des Denkmals durch die Filmemacherin Betina Kuntzsch aus Protest »Thälmann ist niemals gefallen«, ein Lied des DDR-Dichters Kuba. »Ich halte die Kommentierung dieser Denkmäler für sinnvoll«, sagt Andresen. »Erinnerungspolitik lebt von kontroversen Debatten, die dadurch entstehen können.« Der Historiker sieht es kritisch, eine Gedenkstätte für nur eine Person zu errichten, das fördere den Personenkult. »Man sollte Thälmanns gedenken, aber mit ihm auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus.« Gleichzeitig betont er die Bedeutung sozialer Bewegungen für die Erinnerung: »Viele Gedenkstätten gäbe es nicht, wenn sie nicht von Engagierten und Angehörigen durchgesetzt worden wären«, so Andresen.

Von Personenkult will Rainer nichts wissen. »Das ist die Ansicht des Klassengegners«, sagt er und zieht an seiner E-Zigarette. »Wenn man für eine Sache kämpft, braucht man Leitbilder. Wir verehren Thälmann wegen der großen Entbehrungen, die er für seine Überzeugungen auf sich genommen hat.« Rainer wünscht sich, dass es die DDR und die Sowjetunion noch gäbe. Russland und China sieht er als unverzichtbaren Gegenblock zum imperialistischen Westen, die SPD als Verräterin der Arbeiterklasse. Er glaubt noch immer an die Revolution. »Ich sage immer zu meinen Genossen: Wenn es einmal so weit sein sollte und ich im Rollstuhl sitze, schiebt mich dahin. Nachladen kann ich immer noch.«