Der neue Roman von Michel Houellebecq könnte sein letzter sein

Der Untergang des kleinen Glücks

Michel Houellebecq zeigt sich in seinem neuen Roman »Vernichten« zunächst ungewohnt versöhnlich. Dennoch bleibt die Lektüre am Ende niederschmetternd.

Glaubte man Jürgen Habermas, dann saß ganz Frankreich am Lichtschalter. Vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 rief der greise Philosoph per FAZ über den Rhein, die Franzosen mögen nicht »die Lichter« ausschalten. Freilich rief er auf Französisch, meinte mit les Lumières also die Aufklärung. Nicht weniger stand für ihn auf dem Spiel in der Stichwahl zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron. Habermas’ Wunsch wurde erfüllt: Letzterer gewann.

Doch glaubt man einem, der an diesem Lichtschalter einen prominenten Platz einnimmt, dann ist die Bedrohung nicht gebannt. »Vernichten«, der neue Roman Michel Houellebecqs, spielt in den Jahren 2026 und 2027. Wieder steht eine Präsidentschaftswahl an. Bei dieser tritt ein vom scheidenden Präsidenten – der zwar nicht namentlich genannt wird, aber doch sehr an den derzeitigen Amtsinhaber erinnert – ausgewählter Kandidat gegen einen Kandidaten des Rassemblement national an, der Partei Marine Le Pens.

Houellebecq ist kein Zyniker, er ist Nihilist im besten Sinne. Die Hauptfigur Paul Raison lernt: Die Welt ist sinnlos und leer, aber Sex kann die Mauer zum anderen durchbrechen.

Houellebecq am Lichtschalter – das ist für die einen eine Horrorvorstellung, für die anderen die Rettung des Lichts; die einen schmähen ihn als misogynen, rassistischen Reaktionär, die andern feiern ihn als Verteidiger der Meinungsfreiheit. Die Etiketten, die an Houellebecq haften, sind zahlreich, und so ist das Erscheinen eines neuen Buchs des Schriftstellers stets ein Ereignis. Dafür hat die kulturindustrielle Maschinerie dieses Mal allein dadurch gesorgt, dass die Publikation bis in den Dezember geheim gehalten wurde. So vorhersehbar wie der Trubel waren viele der Rezensionen, meist Hymnen oder Schmähkritiken.

Insbesondere unter den deutschen Rezensenten verbreitete sich eine Angst, die dem letzten Satz der Danksagung des Autors entsprang: »Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.« Die Kollegen können beruhigt sein: In einem ausführlichen Gespräch mit dem Journalisten Jean Birnbaum in der Tageszeitung Le Monde gab Houellebecq zu Protokoll, die »Frage des letzten Textes« stelle er sich nicht. Zwar die des letzten Romans, ja, denn das sei schon eine sehr aufwendige und anstrengende Arbeit, zu der er »vielleicht ab einem bestimmten Alter nicht mehr fähig« sein werde. Das klingt nicht so, als wäre dies bereits der Fall.

Worum geht es in »Vernichten«? Im Mittelpunkt steht der Finanzbeamte Paul Raison, ein enger Mitarbeiter des Wirtschaftsministers Bruno Juge, der – das wurde die französische Presse nicht müde zu diskutieren – sehr große Ähnlichkeit mit ­einer realen Person aufweist: dem derzeitigen französischen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der Macrons Partei La République en marche angehört. Houellebecq und Le Maire sind wohl befreundet, seit der Politiker dem Schriftsteller einst half, den Kadaver von dessen Corgi von Irland nach Frankreich zu überführen. Le Maire ist zudem selbst ­Autor – offenbar ist es eine neue Mode in Europa, Schriftsteller zu Wirtschaftsministern zu machen. Sein Alter Ego Bruno Juge kommt sehr gut weg in »Vernichten«: Mit Erfolg hat dieser die französische Wirtschaft wiederbelebt, er ist integer und handelt aus Interesse an der Sache, nicht an der Macht. Dem Protagonisten des Buchs, seinem Mitarbeiter Paul Raison, ist er außerdem ein Freund.

Dazu kommen weitere Handlungsstränge, wodurch sich drei Ebenen ergeben. Auf der höchsten, der globalen, spielen sich bedrohliche Ereignisse ab: Eine unbekannte Gruppe von Hackern und Terroristen verübt zuerst virtuelle, dann reale Anschläge, die so perfekt sind, dass nicht nur der französische Geheimdienst verzweifelt. Auf der zweiten Ebene, der nationalen, finden die bereits erwähnten Präsidentschaftswahlen statt, und auf der dritten schildert Houellebecq den Verfall der Familie Paul Raisons: Schlaganfall, Arbeits­losigkeit, Krankheit, Suizid.

In Paul finden alle drei Ebenen zusammen. Als Sohn eines ehemaligen Geheimdienstbeamten und engen Mitarbeiters Juges ist er in die Versuche eingebunden, die Anschläge aufzuklären. Hinzu kommen lange Passagen mit Gedankengängen des Protagonisten, der jedoch kaum zum Intellektuellen taugt, weshalb er sich mitunter zu so banalen Feststellungen versteigt wie: »Es war unnütz, über die Vergangenheit nachzudenken, es war sogar unnütz, zu sehr an die Zukunft zu denken; es genügte, zu leben.«

»Vernichten« bewegt sich zwischen verschiedenen Genres: Politthriller, Verfallsroman einer Familie, Ideenroman. Dabei unterlaufen sich die Genre-Konventionen gegenseitig, und das Buch unterläuft wiederum die Erwartungen der Leser: Die Prophetie bleibt aus, denn die nationale Ebene tritt im Laufe des Buchs immer mehr in den Hintergrund; Frankreich, das in früheren Romanen Houellebecqs mal den Islamisten in die Hände fällt, mal zur Kulisse für chinesische Touristen verkommt, steht unter der Ägide Bruno Juges erstaunlich gut da; der grausame Fatalismus beispielsweise von »Serotonin« will sich nicht einstellen, auch die sexuelle Verelendung von »Ausweitung der Kamp­fzone« spielt kaum eine Rolle.

Ganz im Gegenteil: Die Familien­ebene wird im Vergleich zur natio­nalen immer bedeutender, die zu Beginn schon für gescheitert erklärte Ehe Pauls erfährt eine neue Blüte. Er und seine Frau Prudence finden ­wieder zueinander. Houellebecq zeichnet hier erstaunliche positive Frauenfiguren, neben Prudence findet sich auch Pauls Schwester Cécile. Generell betrachtet Houellebecq seine Figuren mit großem Wohlwollen. Richtige Unholde scheint es hier kaum zu geben, im Grunde fällt nur Pauls Schwägerin Indy als negative Figur auf – eine linksliberale Journalistin, das lässt sich Houellebecq nicht nehmen.

Ein sexuell erfülltes Paar um die 50, Frankreich auf dem Weg der Besserung, kluge Frauenfiguren – man kann darin Altersmilde sehen. Doch Houellebecqs Punkt ist ein anderer: Alle drei Ebenen fallen gegen Ende zu einer einzigen zusammen. So etwas wie Glück, Sicherheit und Wärme erfährt das Individuum nur in der Beziehung zu zweit. Houellebecq ist kein Zyniker, er ist Nihilist im besten ­Sinne. Paul Raison lernt: Die Welt ist sinnlos und leer, aber Sex kann die Mauer zum anderen durchbrechen. Er empfindet beinahe Sympathie mit den Terroristen, die die Moderne ins Chaos stürzen wollen, und sieht die Ratio als Feindin des Lebens. Einen Geheimdienstmitarbeiter lässt Houellebecq gar seufzen, er suche längst keine Rationalität mehr im Verhalten der Menschen, sondern lediglich Strukturen.

Doch auch das kleine Glück ist dem Untergang geweiht. So stellt sich der Houellebecq-Effekt trotz der versöhnlich scheinenden Töne ein. Die Lektüre des Buchs ist trotz mancher Langatmigkeit niederschmetternd. Die ­Literaturwissenschaftlerin Agathe Novak-Lechevalier hat diesen Effekt zu Recht als tröstend bezeichnet. ­Gerade in der tiefsten Hoffnungslosigkeit keimt die Hoffnung.

Die »Vernichtung« kreist Paul ein, dessen Nachname bestimmt nicht zufällig »Vernunft« lautet. Und wenn ihm am Ende der Tod gewiss ist, wird klar, dass Houellebecq nicht am Lichtschalter sitzt, um Frankreich ins Dunkel zu schicken, sondern um den Umstand anzumahnen, dass das Licht blendet – und vor der unvermeidlichen Tatsache zu warnen, dass eines Tages die Glühbirne durchbrennen wird.

Michel Houellebecq: Vernichten. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. DuMont, Köln 2022, 624 Seiten, 28 Euro