Vor 40 Jahren entstand die ­Mexikanische Front der Kulturarbeiter

Die große Kunst der Kollektivität

Vor 40 Jahren verabschiedete die Mexikanische Front der Kultur­arbeiter ihre Grundsatzerklärung. Das war der Anfang vom Ende eines Jahrzehnts der politischen Organisierung in der mexikanischen Kunst – und einer der interessantesten Phasen kollektiver Arbeit in der Kunst überhaupt.

»Prinzipien und Regeln« – so lautet der trockene Titel eines Dokuments, das eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, Journalistinnen und Journalisten sowie im Film- und Kulturbereich tätigen Personen am 5. Februar 1982 in Mexiko veröffentlichte. Aufgelistet werden darin sage und schreibe 129 Paragraphen, die sich der künstlerischen Arbeit und der politischen Organisierung widmen. Es war die Grundsatzerklärung der Mexikanischen Front der Kulturarbeiter (Frente Mexicano de Trabajadoras de la Cultura). Noch im selben Jahr fiel der Zusammenschluss auseinander.

Die Gründe für die Auflösung werden immer noch kontrovers diskutiert. Sie betreffen die zentrale Frage, ob künstlerische Arbeit und Kollektivierung überhaupt vereinbar sind. Hemmten die vielen Regeln und die politischen Ansprüche die individu­elle Kreativität, wie die Kunsthistorikerin Shifra Goldman urteilte? Oder wurde die Kollektivität eher von politischen Entwicklungen außerhalb der Kunst unterlaufen, wie der marxistische Kunsttheoretiker und Mitgründer der Front, Alberto Híjar Serrano, schrieb?

Während die Wandmalerei der Muralisten längst staatlich anerkannt war, erprobten die künstlerischen Kollektive der siebziger Jahre in Mexiko neue Formen der Verknüpfung von Kunst und politischem Engagement.

Gegründet hatte sich die Mexikanische Front der Kulturarbeiter vier Jahre zuvor, also 1978, ebenfalls an einem 5. Februar. Dieser Tag ist in Mexiko ein symbolträchtiger Feiertag, der »Tag der Verfassung«. In der Verfassung von 1917 wurden einige Errungenschaften der seit 1910 andauernden Revolution zu geltendem Recht gemacht. Insofern waren die Gründung und Grundsatzerklärung der Front auch erinnerungspolitische Interventionen, die auf die unabgegoltenen Ansprüche der Verfassung verwiesen. Die Gründung hatte noch unter dem Namen Mexikanische Front der Gruppen von Kulturarbeitern (Frente Mexicano de Grupos Trabajadoras de la Cultura) stattgefunden. Der Bestandteil »Gruppen« wurde 1980 aus dem ­Namen der Vereinigung gestrichen, um auch Einzelpersonen die Mitgliedschaft zu erlauben.

Dem ehemaligen Mitglied Victor Muñoz zufolge wurde damit bereits das Ende der Bewegung eingeläutet. Muñoz gehörte nicht nur zur Front, sondern auch zum Kunstkollektiv Proceso Pentágono. Es war eines von vielen Kollektiven, die das künstle­rische Feld im Mexiko der siebziger Jahre prägten. Neben Proceso Pentágono gehörten noch andere Gruppen wie El Colectivo, Grupo Suma, Grupo Mira, Taller de Arte e Ideología sowie Gruppen, die nicht den bildenden Künsten zuzuordnen sind, wie die Zeitschrift Cuadernos Filosóficos und die Filmkooperative Taller de Cine Octubre zur Front.

Die Bewegung dieser Kollektive ist mittlerweile unter dem Namen »Los Grupos« in die Kunstgeschichte eingegangen. Sie folgte einerseits internationalen Entwicklungen, die nach 1968 auch in Mexiko die kollektive Organisierung in der Kunst wieder auf die Tagesordnung setzten. Die »Entwicklung kritischen Bewusstseins« im Zuge der Studierendenbewegung von 1968 sei eine der Vor­aussetzungen für die Entstehung der Gruppen gewesen, betont Muñoz. Die Performance-Künstlerin Maris Bustamante, Mitglied von No Grupo, stimmt zu: »Nach 1968 wollten wir alles verändern. Aber wir wollten auch andere Subjekte werden.«

Die Idee, Kunst kollektiv zu betreiben und daneben auch eine politische Interessenvertretung für Künstlerinnen und Künstler zu etablieren, ist jedoch älter. So hebt Muñoz hervor, wie wichtig zumindest für den mexikanischen Kontext das Wissen um präkolumbische, kollektiv entstandene Kunst wie etwa die berühmten Fresken von Bonampak für die Künstlerinnen und Künstler in den siebziger Jahren gewesen sei. Die Fresken stammen aus der spätklassischen Maya-Periode zwischen 600 und 900 nach unserer Zeitrechnung und befinden sich am gleichnamigen Ort im Bundesstaat Chiapas.

Aber auch in Sachen politischer Interessenvertretung gab es in Mexiko bekannte Vorläufer wie die 1922 gegründete Gewerkschaft der Technischen Arbeiter, Maler und Bildhauer (Sindicato de Obreros Técnicos, Pintores y Escultores). Dieser der Kommunistischen Partei nahestehenden Gewerkschaft gehörten auch die berühmten Muralisten Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco an. »All das«, sagt Muñoz, »war eine kritische Antwort auf den Individualismus innerhalb des dominanten Kunstsystems, den wir verändern wollten.«

Während die Wandmalerei der Muralisten längst staatlich anerkannt war, erprobten die künstlerischen Kollektive der siebziger Jahre neue Formen der Verknüpfung von Kunst und politischem Engagement. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Strategien unterscheiden, die sich aber nicht gegenseitig ausschlossen: Einige Kollektive sahen ihre Arbeiten vollständig in der Kunst verankert. Es ging ihnen um die Auseinandersetzung mit den dort bestehenden Institutionen. Die Leute sollten aus dem Museum heraus auf die Straße geholt werden, das Museum sollte zugleich mit neuen Inhalten und neuen Formaten wie Comic-Wandzeitungen, Rauminstallationen, Performances, Mail Art und anderem gefüllt werden. Andere Gruppen lösten sich mehr und mehr vom Kunstbetrieb und richteten ihre Praxis nicht länger an den Kunstinstitutionen und deren Publikum aus. Sie zogen aus der Frage »Für wen machen wir Kunst?« den Schluss, die Adressatinnen und Adressaten zu wechseln. Sie gingen in die Stadtteile, malten mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Wandbilder und diskutierten etwa über die Wohnsituation. Für diese Tendenz steht etwa die Gruppe Tepito Arte Acá.

Solche Fragen des Umgangs mit den Kunstinstitutionen waren stark umkämpft. Während denjenigen, die sich nach wie vor an diesen orientierten, mangelnde Konsequenz in politischer Hinsicht vorgeworfen wurde, kritisierten etwa Mitglieder von El Colectivo die Stadtteilaktionen von Tepito Arte Acá als »nostalgisch und populistisch«.

Die Front betätigte sich zunächst in beide Richtungen: Ihre Mitglieder beteiligten sich am Streik der Beschäftigten der Nationalen Autonomen Universität (Unam) von 1977 und unterstützten die sandinistische Offensive in Nicaragua. Sie organisierten aber auch Ausstellungen und diskutierten Formfragen. Im September 1978 eröffneten sie die Ausstellung »América en la mira« (Ame­rika im Blick), die gleichzeitig an drei Orten stattfand: an der Universidad Autónoma de Puebla, in der Escuela de Artesanías in Mexiko-Stadt und im Museo de Arte Contemporáneo in Morelia.

Die wahrscheinlich letzte Veranstaltung der Front trug den vielsagenden Titel »Frente en la crisis« (Die Front in der Krise). Er hob zwar einerseits auf die ökonomische Krise von 1982 ab, die zu einer dreimaligen Abwertung des mexikanischen Peso gegenüber dem US-Dollar geführt hatte. Andererseits betraf die Krise aber auch die eigene Organisation. »Es gab in Wirklichkeit keine klare Organisationsstruktur«, sagt etwa Arnulfo Aquino von der Grupo Mira im Rückblick. »Die Zusammenarbeit ergab sich vielmehr in jedem einzelnen Projekt und entlang der Themen, mit denen wir uns beschäf­tigten.«

Die Krise ging auf geradezu paradigmatische Weise auch aus der Frage der Kollektivität hervor. Die jeweiligen Antworten hätten sich nicht extremer unterscheiden können: Aus einer politischen und künstlerischen Haltung gegen den Individualismus heraus plädierte eine Fraktion dafür, das Individuelle völlig aus der künstlerischen Praxis zu tilgen. Die Ziele der Front, so heißt es gleich unter Punkt 2.b der Grundsatzerklärung, seien »auf die Förderung der Organisierung und der kollektiven Arbeit ihrer Mit­glieder ausgerichtet« und durch »die übergeordnete Perspektive der Um­gestaltung der kapitalistischen Produktions- und Sinnverhältnisse« motiviert. Die Künstlerinnen und Künstler sollten zur Unterordnung ­ihrer Arbeit unter die Belange des Kollektivs verpflichtet werden.

Die andere Fraktion argumentierte, die starke Betonung des Kollektiven verdecke nur die informellen Hierarchien innerhalb der Gruppen und dränge vor allem die Arbeit von Frauen in den Hintergrund. Feministische Künstlerinnen erlangten in dieser Zeit größeres Selbstbewusstsein. 1983 gründete sich das erste feministische Künstlerinnenkollektiv unter dem Namen »Polvo de Gallina Negra« (Pulver der schwarzen Henne).

Neben der Verdrängung von Frauen kritisierte diese Fraktion am Kollektivitätsgedanken zudem, dass das Ausschalten des Individuums aus dem künstlerischen Prozess zu einem Freibrief dafür mutiere, keine Verantwortung mehr für das eigene Tun übernehmen zu müssen. In diesem Sinne äußerte sich etwa Maris Bustamante, die im Anschluss an ihr Engagement bei No Grupo gemeinsam mit Mónica Mayer »Polvo de Gallina Negra« gegründet hatte. »Der Machismo war auch im Kunstbereich sehr weit verbreitet«, sagt sie rückblickend. Sie sei deshalb »sehr stolz auf die ­Arbeit, die Mónica und ich gemacht haben«.

Die Antwort auf die Frage, ob die kollektive Organisierung die künst­lerische Qualität und den gesellschaftlichen Einfluss der Künstlerinnen und Künstler steigerte oder verringerte, muss wohl ambivalent ausfallen. Der Versuch, Kräfte zu bündeln, und die Befürchtung, Entfaltung zu hemmen, liegen nahe beieinander. Proceso Pentágono und andere verließen die Front 1982, Alberto Híjar Ser­rano und Rini Templeton lösten sie schließlich auf.

Dass nicht ganz klar sei, wann das geschah und ob es mit den anderen abgesprochen war, sagt der mittlerweile 86jährige Híjar Serrano, sei Ausdruck des letztlich »anarchistischen Charakters« dieser Organi­sation gewesen. Aus dem Mund eines trotzkistischen Marxisten ist das ­sicherlich kein Kompliment.