Wie die türkische Regierung ihre Kritikerinnen und Kritiker verfolgt

Sie halten nicht den Schnabel

Trotz alle Bemühungen gelingt es der türkischen Regierung nicht, Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Jüngstes Ziel einer nationalreligiösen Hasskampagne ist die Sängerin Sezen Aksu.

Die beiden Politiker Devlet Bahçeli und Recep Tayyip Erdoğan sind ohnehin keineswegs für ihren Charme berühmt, doch mit den jüngsten Rüpeleien gegen die türkische Pop-Diva Sezen Aksu haben sie sich als wahre Meister markiger Machtworte gezeigt. Die Sängerin Aksu wird in der Türkei auch der »kleine Spatz« genannt. Die benebelte Künstlerin, die Adam und Eva, die Erhabenen, in so scheußlichen Versen als unwissend beschreibe, solle lieber erkennen, dass sie ein Spatz und kein Rabe sei, polterte Bahçeli in der Fraktionssitzung der ultrarechten Partei der Nationalistischen Be­wegung (MHP), deren Vorsitzender er ist. Die MHP bildet im Parlament mit der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) die Regierungskoalition. Im Deutschen würde diese merkwürdige Metapher bedeuten: »Der Spatz soll singen, aber dabei den Schnabel halten.« Präsident Recep Tayyip Erdoğan drohte gar, denjenigen »die Zunge herausreißen« zu lassen, deren Mundwerk sich an der verehrten Eva und an Adam vergreife; dieser gilt im Islam als Prophet.

Die wenigen unabhängigen Medien in der Türkei haben immerhin eine digitale Reichweite von  33,5 Millionen Nutzern. Die große Beliebtheit macht diese Platt­for­men für die Regierung gefährlich.

Was sich wie ein schlechter Witz anhört, ist leider keiner. Das von Sezen Aksu geschriebene Lied »Şahane Bir Şey Yaşamak« (»Etwas Wundervolles erleben«) ist bereits fünf Jahre alt. In einer Strophe heißt es darin sinngemäß: »Wir haben uns auf eine böse Vorsehung eingelassen und steuern auf die Apokalypse zu, grüßt Adam und Eva, die Unwissenden, dort …«

Im fernen ostanatolischen Van nahm Nurullah Arvas, der Vorsitzende der Gewerkschaft der im türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet Şen) Beschäftigten, erst jetzt an dem angeblich blasphemischen ­Inhalt des Liedtextes Anstoß, den Sezen Aksu am 1. Januar als Neujahrsgruß verschickt hatte. Er erstattete Anzeige wegen »Verletzung der religiösen Sensibilitäten des Volkes«, die regierungs­nahe Tageszeitung Yeni Şafak (Neuanfang) sorgte für die Verbreitung der Nachricht, die umgehend eine Kampagne gegen die Künstlerin auslöste.

Unter dem Hashtag #Sezenaksu­haddinibil (Sezen Aksu kenne deine Grenzen) regnete es Schmähungen, eine 20köpfige Gruppe von Ultranationalisten demonstrierte vor Aksus Haus im Istanbuler Stadtteil Beykoz. Mit über 400 Liedtexten und Kompositionen ist die Sängerin sowohl eine der produktivsten als auch eine der beliebtesten Künstlerinnen in der Türkei, unzählige Kollegen und Kolleginnen solida­ri­sier­ten sich sofort mit ihr und retwee­teten den Liedtext in unterschiedlichen Sprachen. Damit protestierten sie gegen den Obersten Rat für Radio und Fernsehen (RTÜK), der Mitte Januar einen Hinweis an die Radiosender schickte, das Lied nicht zu spielen. Bei Zuwiderhandlung drohe eine Klage auf der Grundlage des Paragraphen 301, hieß es, der die Beleidigung des türkischen Staats und der türkischen Nation mit Gefängnis- und Geldstrafen ahndet.

Die Rundfunkkontrollbehörde RTÜK hat weitreichende Befugnisse. Sie kann Medien mit Bußgeldern belegen oder vorübergehende Sperrungen von Fernsehkanälen anordnen, die aus Behördensicht gegen türkische Werte verstoßen oder die türkische Regierung und deren Repräsentanten geschmäht haben. Strafen wurden auch gegen Sender verhängt, die erotische Inhalte verbreiteten oder Homo- und Transsexua­lität thematisierten, so etwa gegen den türkischen Dienst von Netflix. Für einige Serien ließ RTÜK die Altersgrenze auf 18 anheben, andere wurden gesperrt.

Zehntausende seien seit dem Amtsantritt Erdoğans wegen Präsidentenbeleidigung strafrechtlich verfolgt worden, meldete der Nachrichtensender al-Jazeera am 29. Januar auf seinem Online-Nachrichtenportal. Unter ihnen ist auch Sedef Kabaş, eine bekannte Journalistin, die vorige Woche verhaftet wurde und nun angeklagt wird. Sie hatte auf ihrem Twitter-Account Erdoğans Herrschaft kommentiert und dies im oppositionellen Fernsehsender Tele1 wiederholt: »Es gibt ein sehr berühmtes Sprichwort: Das gekrönte Haupt wird weise. Aber wir sehen, dass dies nicht immer zutrifft. Bei uns ist das Gegenteil der Fall. Wenn ein großköpfiges Tier einen Palast betritt, wird es kein König. Dieser Palast wird zu einem Stall. Es bedeutet also genau das Gegenteil.«

Nach Angaben des Redaktionsnetzwerks Deutschland wurden zwischen Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten im Sommer 2014 und Ende 2019 mehr als 63 000 Menschen wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt und 9 554 von ihnen verurteilt; in den sieben Amtsjahren seines Vorgängers Abdullah Gül waren es 233 Verurteilungen. 95 Prozent der Medien in der Türkei würden direkt oder indirekt von der Regierung kontrolliert, sagt Yavuz Baydar, Chefredakteur und Mitgründer der aus dem Ausland berichtenden Medienplattform Ahval.

Die NGO Reporter ohne Grenzen führt die Türkei in ihrer Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 153 unter 180 Staaten. Doch einer Studie des International Press Institute vom März 2021 zufolge haben die wenigen unabhängigen Medien in der Türkei immerhin eine digitale Reichweite von 33,5 Millionen Nutzern, die regierungsnahen ­Medien erreichen 47,8 Millionen. Die große Beliebtheit macht die unabhängigen Plattformen für die Regierung gefährlich. Im vergangenen Jahr wurden auf Geheiß des Präsidenten die ­Gesetze zur Kontrolle der sozialen Medien verschärft, um dem »Lügenterror« zu begegnen.

Die Kulturschaffenden in der Türkei lassen sich trotz aller Gefahren nicht einschüchtern. Sedef Kabaş twitterte am 29. Januar aus der Untersuchungshaft unter dem Hashtag #SedefKabaşa­Öz­gür­lük (Freiheit für Sedef Kabaş): »Es geht nicht darum, in einem Palast zu leben, sondern darum, einen Thron in den Herzen der Menschen zu errichten.« Sezen Aksu antwortete am 22. Januar mit einem Liedtext auf ihrer Website: »Du kannst mich nicht verletzen, ich bin schon traurig; Schmerzen, wohin ich schaue. Ich bin die Beute, du bist der Jäger, schieß doch. (…) Du kannst meine Zunge nicht zerquetschen. (…) Du kannst mich nicht töten. Ich habe meine Stimme, mein Instrument, mein Wort, wenn ich von mir spreche. Ich bin jeder.« Sie fügte noch hinzu, dass sie seit 47 Jahren schreibe und nicht gedenke, damit aufzuhören.

Der Empörungssturm veranlasste Präsident Erdoğan schließlich zu einem Rückzieher. Er twitterte am 26. Januar, dass er nicht Sezen Aksu gemeint habe, als er vom Herausreißen von Zungen sprach.

 

Journalismus ist keine Terrorpropaganda

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte im Mai 2017 versprochen, den Fall »vorrangig und in kürzestmöglicher Zeit« zu behandeln. Am Dienstag voriger Woche war es dann so weit, das Urteil wurde schriftlich verkündet. Der EGMR entschied, dass die Inhaftierung Deniz Yücels in der Türkei un­angemessen und die Einschränkung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht hinreichend gerechtfertigt gewesen sei. Überdies sei die Yücel vom türkischen Verfassungsgericht zugestandene finanzielle Entschädigung zu gering, er habe ein Anrecht auf 12 300 Euro Schadensersatz sowie die Erstattung von 1 000 Euro an Verfahrenskosten.

Deniz Yücel, ein ehemaliger Redakteur der Jungle World, war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung am 27. Februar 2017 Korrespondent der Welt in der Türkei. Ihm wurde »Terrorpropaganda« ­vorgeworfen. Gegen die Inhaftierung wandte sich eine breite Solidaritätskampagne, am 16. Februar 2018 wurde er freigelassen.

Yücel bezeichnete das nun ergangene Urteil als »nur in Teilen erfreulich«. Es sei enttäuschend, dass »der EGMR keinen Verstoß ­gegen das Folterverbot festgestellt hat – trotz der neunmonatigen Isolationshaft, trotz der körperlichen und psychologischen Misshandlung, der ich im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 drei Tage lang ausgesetzt war«. Überdies habe das Gericht die politische Motivation des Verfahrens nicht festgestellt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig und kann von Yücel und der Türkei gleichermaßen angefochten werden.